GÜNTHER BLÖCKER: Das Torgewölbe

Marginalien zum KLEIST-JAHR 2011

  • Lesedauer: 2 Min.
Gewiss strebt auch Kleist einer Harmonie zu. Aber es ist nicht die Zweckharmonie eines idealisierenden Arrangements, und sie stellt sich nicht in der Weise her, dass sich dem Bösen das Gute, dem Irrtum die Wahrheit, dem Widervernünftigen das Vernünftige dialektisch entringt und die disparaten Elemente des Daseins sich am Ende auf ein schließlich doch sinnvolles, vernunftgesegnetes Ganzes hin ordnen und entwickeln.

Kleists Harmonie behauptet sich im ungeschmälerten Bewusstsein der Dissonanz. Sie beruht auf der Anerkennung des Unlösbaren, wie sie sich in Homburgs Entschluss bekundet, durch Hingabe des Lebens – »tot vor den Fahnen schreitend« – das gleiche Gesetz zu ehren, dem er als Lebender nur durch Ungehorsam und Auflehnung dienen kann. Harmonie als Forderung läuft auf Einebnung und falschen Trost hinaus.

Es gibt im menschlichen Bereich nur das Ausnahmeglück der harmonischen Konstellation, gnadenreicher Augenblicke eines auf schmaler Höhe zwischen zwei Abgründen sich haltenden Gleichgewichts. Das ist die Situation des Menschen, die Kleist immer wieder darstellt. Es ist die eines disparaten Universums, das aus der Spannung seiner Widersprüche lebt, durch sie existiert, sich in ihnen aufrecht erhält – ganz wie das Würzburger Torgewölbe, dieses anschaulichste Sinnbild eines im Widerspruch seiner Teile sich behauptenden Weltbewusstseins. Kleists Menschen sind weltgläubig im Weltschmerz, sie sehen sich mit der Unheilbarkeit des Seins konfrontiert und halten diesem Faktum stand. Das ist ihre Weltfrömmigkeit.

Aus: Günther Blöcker: Heinrich von Kleist oder Das absolute Ich. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1977.

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