Das vertrage ich nicht!

ZUR SEELE: Erkundungen mit Schmidbauer

  • Lesedauer: 3 Min.
Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker und Autor in München
Dr. Wolfgang Schmidbauer arbeitet als Psychoanalytiker und Autor in München

Jeder hat sie in seinem Bekanntenkreis: Gäste, die auf eine reich gedeckte Tafel starren, als sei sie ein australisches Gewässer voller Sumpfkrokodile. Ist da Weizenmehl drin? Milch? Eine Spur von Nüssen? Erdbeeren? Kiwis? Fisch? Sie haben eine Lebensmittelallergie, sie müssen diese Feinde ihres Wohlergehens rechtzeitig erkennen und unbedingt vermeiden. Schwingt da ein leiser Vorwurf mit, man habe sie eingeladen, ohne vorher ihre speziellen Diät-Bedürfnisse abzufragen?

Rund zwanzig Prozent der Deutschen glauben, sie würden allergisch reagieren, wenn sie das Falsche essen. Die Spezialisten in den Kliniken korrigieren: Nach genauen Untersuchungen bleiben nur zwei Prozent übrig. In den USA ist es ähnlich, man kann sogar sagen, sie sind uns, wie in anderen Zivilisationsverwirrungen, auch hier voraus, denn dort glauben sogar um die dreißig Prozent, an einer Nahrungsmittelallergie zu leiden; in kritischen Untersuchungen bleiben nach einer Statistik des Nationalinstitutes in Bethesda/Maryland drei bis vier Prozent übrig.

Ein Teil der Diskrepanz lässt sich physiologisch erklären: Wenn Heuschnupfenkranke etwas essen, das ein ähnliches Protein enthält wie etwa Birkenpollen, vertragen sie das nicht. Diese so genannte Kreuzallergie kann viele Obst- und Gemüsesorten betreffen; sie ist aber launisch, weil das betreffende Protein instabil ist; so können Menschen Apfelkompott vertragen, die es beim Genuss roher Äpfel im Mund juckt.

Es ist etwas faul mit unserer Ernährung. Agrarfabriken produzieren ohne Rücksicht auf Artenvielfalt und Tierschutz. Kleinbauern verschwinden, aus Getreide wird Sprit, um die Autos der reichen Länder zu betreiben, oder Viehfutter, um »hochwertige« Nahrung zu produzieren. Es gibt in den armen Ländern die ersten Aufstände. Wer von umgerechnet einem Euro am Tag leben muss, den lässt es nicht kalt, wenn der Brotpreis steigt. Für jedes Prozent Teuerung der Grundnahrungsmittel durch unsere Luxusbedürfnisse werden weltweit 16 Millionen Menschen mehr hungern.

Vermutlich korreliert das Wachstum der Nahrungsmittelallergien mit dem Wachstum der Ängste in der globalisierten Wirtschaft. Die Menschheit hat sich in den industriellen Fortschritt schicken lassen wie die Armee eines wahnsinnigen Feldherrn, ohne Nachdenken über stabile Versorgung und Rückzugsmöglichkeiten. Benzinfressende Luxusmobilität erstarrt in Stahl und Plastik, als ob es den Peak of Oil nicht gäbe – den Punkt ohne Wiederkehr, an dem die Erdölwirtschaft ihre Zukunftsfähigkeit verloren hat. Die Industrieländer verbrauchen drei- bis sechsmal mehr als nachwächst. Nicht der Allergiker ist verrückt, sondern das System, in dem er lebt.

Den einzelnen Bösewicht zu finden und aus der Welt zu schaffen, spendet in solchen Situationen falschen Trost. Mubarak ist weg, Gaddafi soll verschwinden, wenn Ruhe ist in Nordafrika, dann wird der Sprit an der Tankstelle wieder billiger. Notfalls fahren wir »biologisch«, unsere sorgenden Politiker haben da schon Zeichen gesetzt, mit winzigen Anfangsfehlern, die sie jetzt flink korrigieren.

In der stabilen Mehrheit der Hungernden auf unserem Planeten sind Nahrungsmittelallergien und Essstörungen unbekannt. Unter den Millionen junger Frauen in den Slums von Kalkutta bis Rio de Janeiro finden sich vermutlich weniger Magersüchtige als in einem deutschen Gymnasium. Während die Allergiker fürchten, an ihrem Wohlstand zu ersticken, ist die Welt der Hungernden einfach: König ist, wer etwas zu essen findet. Kann Europa die arbeits- und perspektivelosen jungen Männer, welche die Strassen von Kairo, Tunis, Tripolis oder Marrakesch füllen, von den Chancen einer Wirtschaft überzeugen, die auf Luxus verzichtet und sich auf den eigenen Ressourcen stabilisiert? Es wird schwer fallen, wenn uns selbst so wenig klar sein darf, dass die Wachstumsideologie ein Irrweg ist. So lange wir das nicht begreifen, werden die jungen Männer in Nordafrika auch nicht aufhören, davon zu träumen, dass sie alle ihre gegenwärtigen Probleme in dem Augenblick hinter sich lassen, in dem sie in ein schickes Auto steigen.

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