Die Kinder der Revolution

Eine ehemals »unpolitische« Generation streitet nun beharrlich für ein anderes Ägypten

  • Juliane Schumacher, Kairo
  • Lesedauer: 7 Min.
Die Generation zwischen zwanzig und dreißig galt in Ägypten als unpolitisch – bis Ende Januar. Nun wollen diejenigen, die auf dem Tahrir-Platz ausharrten und für demokratische Rechte stritten, beharrlich für ein anderes Ägytpen streiten. Ein mühevolles Unterfangen.

Jede Revolution hat ihre skurrilen Seiten. Im Fall Ägyptens heißt eine davon Abbud el-Somor. El-Somor war 1981 an der Ermordung des Präsidenten Anwar al-Sadat beteiligt. Obwohl seine Haftzeit längst abgelaufen war, blieb er im Gefängnis – bis die Staatspartei NDP während der Proteste Ende Januar die Gefängnisse öffnete und Zehntausende Häftlinge freiließ, um in den Straßen Unruhe und Angst zu schüren. Seither wandert el-Somor durch die Talkshows und verteidigt seine Tat – und die jungen Ägypter, die die Revolution getragen haben, schütteln nur den Kopf. »Das ist die schlimmste Nebenwirkung der Revolution«, ruft Omar, und seine Freunde Mohammed und Amr lachen. »Das war eine der Sachen, die wir nicht wollten.«

»Ich wollte eigentlich nur weg«

Omar, Mohammed und Amr sitzen am frühen Abend in einem der Straßencafés im Zentrum Kairos, unweit des Tahrir-Platzes, auf dem sich der bedeutsamste Teil der ägyptischen Erhebung abspielte. Die Luft ist mild, die bunten Plastikstühle sind besetzt, junge Männer und Frauen trinken Tee, ziehen an der Wasserpfeife, tippen Nachrichten in ihr Handy, zünden sich eine Zigarette an. Manche schäkern laut über Freunde und Familie, viele diskutieren über Politik. Die Straßencafés im Zentrum Kairos sind ein Treffpunkt der »Kinder der Revolution«, jener Generation zwischen zwanzig und dreißig, die noch vor wenigen Wochen als völlig unpolitisch galt.

»Ich wollte eigentlich nur weg«, erzählt der 21-jährige Hamid. Er studiert Ingenieurwesen, ein Semester fehlt ihm bis zum Abschluss, dann wollte er in die USA oder an den Golf. Wie viele andere der jungen, gut gebildeten Ägypter: Manche hatten schon ihren Pass beantragt, ein Ticket nach Europa in der Hand. Dann kam der Aufstand. Und warf alle Pläne um. 18 Tage gemeinsames Kämpfen, Feiern, Diskutieren auf dem Tahrir-Platz – diese Erfahrung hat diejenigen, die dabei waren, für immer geprägt.

Fatima, 25 Jahre alt, hat fast ihren ganzen Freundeskreis verloren, eine Erfahrung, von der viele Aktivisten erzählen: »Die waren gegen die Revolution. Sie konnten nicht verstehen, warum ich zu den Demonstrationen gegangen bin. Und was mir jetzt wichtig ist.« Ihre neuen Freunde sind die Leute, mit denen sie auf dem Tahrir-Platz ausgeharrt hat.

Die rote Linie ist gefallen

Die Gruppe trifft sich fast jeden Tag. Sie haben eine Kampagne ins Leben gerufen, um politische Bildungsarbeit zu betreiben, und dafür ein Ladenlokal gemietet. Sie sind, wie viele andere, wieder stolz auf ihr Land, sie haben die Hoffnung, etwas verändern, die Zukunft gestalten zu können.

Fast nirgends war vor einigen Wochen die ägyptische Flagge zu sehen. Jetzt weht sie aus jedem Fenster, klebt auf Autos, auf Buttons an Taschen und Hemden, häufig mit dem Schriftzug »25. Januar«, dem Datum, an dem der Aufstand begann. »Das ist jetzt wieder mein Land«, ist häufig zu hören. Jeder kann eine eigene Geschichte erzählen: von den Brüdern, die nach Kanada und Australien ausgewandert waren und zurückkamen, um auf dem Tahrir-Platz gegen Präsident Mubarak zu kämpfen. Von den Verwandten in Deutschland und Frankreich, die angekündigt haben, bald zurückzukehren, jetzt, da Ägypten frei sei.

Ist Ägypten frei? »Freier als zuvor«, sagt Fathy Abou Hatab, »auf jeden Fall.« Hatab ist Journalist bei »Al-Masr Al-Youm«, der wichtigsten ägyptischen Tageszeitung, die schon früher als relativ unabhängig galt. Relativ. »Es gab immer eine rote Linie, die man nicht übertreten durfte«, erzählt Hatab. »Unsere Arbeit bestand seit Jahren darin, uns entlang dieser Linie zu bewegen, zu versuchen, sie Stück für Stück zu verschieben.« Wer den Präsidenten oder wichtige Wirtschaftsbonzen kritisierte, erhielt einen Anruf oder ein Schreiben der Sicherheitspolizei, die willkürlich verhaftete, folterte und Menschen verschwinden ließ.

Mit dem Aufstand ist die rote Linie gefallen. »Es gibt immer noch Tabus, etwa interne Streitigkeiten im Militär«, sagt Hatab, »doch davon abgesehen sind wir in der Berichterstattung völlig frei.«

Die Zeitungen stehen vor ganz neuen Problemen: Die Leserschaft hat sich in den letzten Wochen verdoppelt, es gibt nicht genügend ausgebildete Journalisten, und auch diejenigen, die den Beruf seit Jahren ausüben, müssen erst lernen, ohne Zensur und Selbstzensur zu schreiben. »Wir haben eine große Verantwortung«, sagt Hatab, »und die Menschen sind jetzt sehr wachsam. Sie lesen, sie hinterfragen, sie kritisieren.«

Jeder Ägypter ist jetzt Experte für Politik

Das neue Interesse an Politik ist in Kairo an jeder Straßenecke zu spüren. In Gruppen stehen Männer und Frauen auf Plätzen, sitzen in Cafés – und diskutieren. »Das ist das neue Ägypten«, sagt der Aktivist Yussuf und deutet strahlend auf die Grüppchen. »Eine Regierung auszutauschen, das ist eine formelle Sache. Die wirkliche Veränderung findet in den Menschen statt.« Hamid ergänzt: »Früher war jeder in Ägypten Experte für Fußball, jetzt ist jeder Experte für Politik.«

Die Angst, das ist in den Straßen zu spüren, ist weg. Die verhasste Sicherheitspolizei ist verjagt. Die Polizei, die ebenfalls für Korruption und Brutalität stand, ist zwar auf die Straßen zurückgekehrt, nach einigen Übergriffen derzeit aber äußerst höflich und zurückhaltend. Das Militär, das nach dem Rücktritt Mubaraks die Macht übernommen hat, genießt – anders als Staatspolizei und Polizei – in der Bevölkerung einen guten Ruf. Zahlreiche Geschichten kursieren von Verbrüderungen zwischen Soldaten und Demonstrierenden, Geschichten von Offizieren, die sich weigerten, den Befehlen zu gehorchen und sich auf die Seite der Demonstranten stellten. Dass die Militärführung sich weigerte, auf die eigene Bevölkerung zu schießen, hat die Armee in den Augen vieler zur »Retterin der Revolution« gemacht. Der Ruf »Armee und Volk – Hand in Hand« wird auch jetzt noch von Zeit zu Zeit in den Straßen laut.

Dabei geht die Armee längst nicht mehr Hand in Hand mit den Protestierenden – im Gegenteil. Als am 26. Februar erneut Tausende auf den Tahrir-Platz kamen und den Rücktritt des Kabinetts forderten, nahm das Militär mindestens neun Personen fest, mehrere berichten von Gewalt bei der Festnahme.

Immerhin: Das Militär entschuldigte sich anschließend öffentlich dafür, Unschuldige verhaftet zu haben, und versprach, dass so etwas nicht mehr geschehen werde. Leere Worte: Knapp zwei Wochen später, am 9. März, räumte das Militär gewaltsam den Tahrir-Platz, auf dem noch immer Hunderte lagerten, um darauf hinzuweisen, dass die Forderungen der Revolution längst noch nicht erfüllt sind. Bezahlte Schläger hatten die kleine Zeltstadt zuvor angegriffen. Das Militär nahm über 200 Personen fest, darunter fast alle Protestierenden, die sich noch auf dem Platz befanden – zu ihrem eigenen Schutz, wie es offiziell hieß.

Von Schutz konnte jedoch keine Rede sein: Von vielen fehlt bis heute jede Spur, andere wurden vor Militärgerichten zu Haftstrafen bis zu drei Jahren verurteilt. Die inzwischen freigelassen wurden, berichten von brutaler Folter und sexuellen Übergriffen. »Sie warfen mich zu Boden und prügelten auf mich ein«, erzählt Ramy Essam, ein 23-jähriger Student, der während der Proteste mit seinen Liedern bekannt geworden war. »Sie zogen mich aus und schnitten mir die Haare ab. Sie schlugen uns mit Stöcken, Stromkabeln, Gürteln und Drähten. Sie schlugen uns mit Schuhen, sprangen mir aufs Gesicht. Offiziere verabreichten mir Elektroschocks ...«

Essam ein Video auf seine Facebook-Seite und Youtube gestellt, in dem er detailliert über die Folter berichtet und seinen zerschundenen Rücken zeigt. Andere folgten seinem Beispiel, stellten mehr Videos oder Berichte von Misshandlungen ins Netz.

Der Kampf ist noch längst nicht gewonnen

Für viele der Aktivisten war es ein Schock: »Ich hätte nie geglaubt, dass das Militär so etwas tut«, sagt Fatima. »Wir dachten, wir können der Armee vertrauen!« Auch sie sei kurz festgenommen worden. »Aber die Soldaten haben uns gut behandelt, mit Respekt.«

Der junge Aktivist Hamid wollte zuerst an Einzelfälle glauben. Dann merkte er: Das stimmt nicht. Er ist wütend, ratlos, enttäuscht: »Wir haben die Staatssicherheit nicht davongejagt, damit das Militär jetzt mit den gleichen Methoden weitermacht.« An Einzelfälle glaubt er nicht mehr. Seit 30 Jahren gilt in Ägypten der Ausnahmezustand, seine Aufhebung war eine der Forderungen der Protestierenden. Stattdessen hat das Militär ihn jetzt quasi verschärft: Mitte März wurde ein Gesetz gegen »Thuggery« erlassen, worunter eine lange Liste von Vergehen fällt, von Waffenbesitz über Diebstahl bis zu Störung der öffentlichen Ordnung – schon vor der Abstimmung über die neue Verfassung hat es das Militär gegen missliebige Meinungsäußerungen angewandt.

Die jungen Leute, die gerade erst beginnen, im neuen Leben nach dem Tahrir-Platz anzukommen, merken, dass die Revolution noch längst nicht gewonnen ist – und es nicht reichen wird, ihre Fortführung der Armee zu überlassen.

Straßencafé in Kairos Zentrum: Treffpunkt vieler politischer Diskussionsrunden (oben). Vieles erinnert an den 25. Januar, den Tag, an dem der Aufstand begann. Fotos: Schumacher
Straßencafé in Kairos Zentrum: Treffpunkt vieler politischer Diskussionsrunden (oben). Vieles erinnert an den 25. Januar, den Tag, an dem der Aufstand begann. Fotos: Schumacher
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