Archäologie des Familienfotos

»Versammlungen« in der Galerie Loris zeigt Werke von Ruth Hommelsheim

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.
»Versammlungen«
»Versammlungen«

Zuweilen liegt in der Reduktion ein neuer Reichtum. Ruth Hommelsheim hat für die Ausstellung »Versammlungen« in der Galerie Loris den Hintergrund von Familienfotos aus den 1920er bis 1960er Jahren mit weißer Farbe eliminiert. Nur schattenhaft sind Hausfassaden und parkende Autos, Berge, Seen und Strände noch zu erkennen. Durch den Wegfall dieser Umgebung rücken die Porträtierten stärker in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Sie erhalten den Charakter von Skulpturen und Skulpturengruppen, an denen man vor allem die Bezüge der einzelnen Personen zueinander herausarbeiten kann.

Die konzeptuelle Fotokünstlerin hat damit eine Art Archäologie des Familienfotos hergestellt. In unterschiedlichen Themengruppen fördert sie den inszenatorischen Charakter solcher Fotos zutage. Das erfolgt jedoch nicht in einem aufgeregt demaskieren wollenden oder gar anklagenden Gestus, sondern mit einem leicht ironischen Wissen um die Mechanismen. Ein Vater zerrt etwa seinen ungefähr drei Jahre alten Sprössling an den hoch gereckten Ärmchen, um ihn aufrecht auf Skiern positionieren zu können. Der Arm einer Mutter, die aus dem Bild zu entschwinden trachtet, schiebt schnell ein jüngeres Geschwisterkind neben ein älteres.

Herrlich ist eine Mini-Serie auf dem Dreirad. Die Mutter platziert die beiden Kinder in unterschiedlicher Komposition auf dem kleinen Gefährt. Mal sitzen sie hintereinander und halten die Köpfe links und rechts geneigt, um von der Kamera erfasst zu werden. Dann wieder nehmen sie Rücken an Rücken auf dem Dreirad Platz. Die sorgenden Hände der Mutter, die ein Herunterfallen, vielleicht auch nur ein aus dem Bild Fallen fürchtet, sind stets zum Eingreifen bereit. Ihre ganze Körperhaltung signalisiert höchste Aufmerksamkeit.

In anderen Fotos wird durch die Wegnahme des Hintergrundes das Motiv der Bewegung herausmodelliert. Vier Kinder, die zur gleichen Zeit ins Wasser springen, wirken wie rasante Flugobjekte. Interessant ist auch ein Familienausflug in den 20er Jahren. Vorn nimmt eine Mutter mit zwei Kindern Tempo auf, während die Alten zurückzubleiben drohen. Dennoch hält das Element der Ähnlichkeit sie wie ein zartes Band zusammen.

Auffällig ist die zunehmende Dynamik in den gestellten Bildern im Laufe der Jahrzehnte. Familienfotos aus den 20er Jahren wirken meist statisch. Die einzelnen Personen sind nach Graden der Verwandtschaft und der – mutmaßlich – innerfamiliären Bedeutung umeinander geordnet. Die Gruppe strahlt Geschlossenheit und durchaus auch Abwehrbereitschaft gegenüber äußeren Einflüssen aus. Die Fotos aus den späten 60er Jahren indes setzen viel stärker auf Bewegung. Einzelne Personen werden im Moment der Bewegung eingefangen. Bei der Bildkomposition spielt die Dynamik parallel und gegensätzlich gerichteter Bewegungen der Porträtierten eine große Rolle. Körper biegen und beugen sich. Sie sind gegen Objekte oder andere Körper gelehnt und geneigt.

Gewissermaßen eine Zwischenposition markiert das Foto eines Ausflugs einer Gruppe von Richtern des Bundesverfassungsgerichts in das Berlin der 50er Jahre. In einem angedeuteten Halbkreis stellen sich circa zwei Dutzend Männer und eine Frau vor dem hinter einem Flor weißer Farbe gerade noch erkennbaren Brandenburger Tor auf. Sie schieben sich als ein Körperbauwerk vor das architektonische Monument – ähnlich massiv, ähnlich harmonisch gegliedert und mit ihren aufrechten Einzelelementen an die Säulen des Tors erinnernd. Sie sind fest und dynamisch zugleich.

Ruth Hommelsheim lädt durch das Weglassen des Hintergrunds zu einer Neulektüre von Familienfotos ein, die über das Erkennen von bekannten Personen und des sich Vergewisserns ihrer und der eigenen Identität hinausgeht. Sichtbar werden vielmehr Konstruktions- und Darstellungsprinzipien von Gemeinschaft. Man kann diese Werkreihe, die auf der Grundlage von Fotos aus dem eigenen Familienarchiv geschaffen ist, daher als eine soziale Studie betrachten. Man könnte sie genauso gut als eine Vorstufe zur Darstellung von Gruppenkonstellationen und Beziehungsgefügen zur Ausgestaltung neuer digitaler Sozialmedien gebrauchen. Manchmal erinnern die freigestellten Gestalten zudem an Werbeaufsteller aus den lebensgroßen Silhouetten von Personen, die immer stärker den Stadtraum bevölkern.

»Versammlungen« stellt einen subtilen Versuch dar, den Blick auf das Verhalten von Menschen zu lenken, die sich für die abwesende Mitwelt und die Nachwelt in Szene setzt.

Galerie Loris, Gartenstr. 114, mi. - fr. 14 - 19 Uhr, sa. 12 - 17 Uhr, bis 1.5. www.lorisberlin.de

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