Über der Stadt ist alles Glut ... was soll das werden?

Alban Bergs »Wozzeck« an der Staatsoper Berlin. Regie: Andrea Breth

  • Ekkehart Krippendorff
  • Lesedauer: 4 Min.

Der große Raum des Schillertheaters ist tief dunkel, wenn wie aus dem Nichts die ebenso leise wie spannungsgeladene Musik Alban Bergs einsetzt und das ins Schweigen gebannte Publikum ergreift: Daniel Barenboim war unbemerkt und ohne den rituellen Begrüßungsapplaus bereits am Pult – ein kleiner Traditionsbruch mit einer Botschaft, die vom Ende her verständlich wird. Wenn der schwarze Vorhang gefallen ist und das totale Dunkel dieses Anfangs sich wieder über ein Publikum senkt, das für lange Sekunden zögert, die Stille mit seinem Applaus zu stören. Applaus, der aber auch nicht der übliche Premierenjubel wurde, sondern einer der Ergriffenheit und des Respekts vor einem großen Kunstwerk und einer bedrückend hautnahen Herausforderung.

Das Programmheft druckt einen Essay Adornos ab, in dem dieser die Vertonung des doch eigentlich keines musikalischen Kommentars bedürftigen Textes Büchners gerechtfertigt wird – und zwar mit dem Hinweis, dass Bergs Musik jene einhundert Jahre an historischer Erfahrung mit dem fragmentarischen Drama mitkomponiert und damit hörbar gemacht habe, die seit dessen Niederschrift (1837) vergangen waren.

Georg Büchners »Woyzeck« war nach seiner späten Entdeckung durch das Theater (1913) wahrgenommen worden als Mit-Leidensgeschichte der gesellschaftlich geschundenen Kreatur und des Elends der Kleinen Leute. Alban Berg sah hundert Jahre später die historische Figur des hingerichteten Mörders vor allem als manipuliertes Opfer der modernen Wissenschaft und verlangte eine »realistische« Inszenierung. Das alles stimmt noch immer.

Die Regisseurin Andrea Breth aber hat diese Forderung insofern ernstgenommen, als sie ihrerseits den Abstand von nunmehr wiederum fast einhundert Jahren, die uns von Bergs Aneignung für das Musiktheater trennen (1925), als »realistisches« Regie-Konzept zugrundelegt: Unsere Welt von 2011 ist nicht mehr die der 20er Jahre – und sie hat in diesem Jahr einen neuen, furchtbar bedrohlichen Namen erhalten, der alle bisherigen Bedrohungsszenarien für die Menschheit in den Schatten stellt: Fukushima. Er musste von ihr nicht ausgesprochen werden, um seine Präsenz nicht in jedem Moment spürbar werden zu lassen.

Das Wozzeck-Drama spielt sich in einer Art Bunker auf kleinem Raum ab, der vom Bühnenbildner Martin Zehetgruber aus der übergroßen Bühnenfläche eines schwarzen Vorhangs herausgeschnitten wurde, eine beklemmende Atmosphäre der Angst beherrscht die Szenen. Insgesamt fünfzehn (von Büchners dreiundzwanzig) hat Berg komponiert, sie werden durch scharfe Schnitte im Hell-Dunkel, schwarz-weiß aneinander gereiht – jede enthält eine Welt, jede variiert das große Thema der Endzeitlichkeit ohne platte Aktualisierungen.

Nur einmal – und das dann mit atemberaubender visueller Wucht – öffnet Breth die Riesenbühne in ihrer ganzen Höhe und Breite, um Wozzeck und Marie wie verlorene Menschenkinder mutterseelenallein zu zeigen – »Still, alles still, als wär die Welt tot« – dann ersticht er sie. Natur findet realistisch hier nur noch in der Form düsterer Alptraum-Visionen und dunkler Bedrohungen des Menschen Wozzeck statt. Die Erde ist mit einem unsichtbaren Gift kontaminiert: »Über der Stadt ist alles Glut! Ein Feuer fährt um den Himmel. Und sieh, da ging ein Rauch vom Land, wie der Rauch vom Ofen? Etwas, was wir nicht fassen, begreifen, was uns von Sinnen bringt. Was soll das werden?« Wozzeck sieht geheimnisvolle Ringe um die Pilze des Waldes – es sind, wie wir seit Tschernobyl wissen, die besonders strahlungsbelasteten Lebensmittel.

In Breths Inszenierung, unterstützt und bekräftigt durch Bergs unheimlich konkrete Musik, hört man eine Mahnung, einen Aufschrei, den frühere Lesarten (und Inszenierungen) vermutlich so nicht ins Zentrum gerückt haben: eine Endzeitvision, wenn wir nicht zur Umkehr fähig und bereit sind; ein apokalyptischer Weltuntergang, den der hellsichtig-schutzlose Wozzeck sensibler, als wir uns das zugestehen, ausspricht, aussingt, aus-schreit.

Breth zeigt uns eine durch Berg/Büchner geschärfte Weltsicht, die der Möglichkeit ihrer eigenen Finalität ins Auge schaut. Das berühmte Crescendo-h des Orchesters nach dem Mord an Marie – hier ging er direkt unter die Haut. Es spricht für die große Ernsthaftigkeit dieser Präsentation von »Wozzeck« im Epochenjahr von Fukushima, dass das Programmheft den Text der ersten drei Szenen des 1. Aktes parallel setzt zur berühmten, aber selten gelesenen und noch seltener ernstgenommenen »Offenbarung des Johannes.«

Das alles lebt, spricht aus dem Text und mit der Musik. Über sie ist viel Kluges geschrieben worden. Barenboim lässt uns mit der Staatskappelle ihre kammermusikalische Durchsichtigkeit erleben, wie sie selten so eindringlich ihre Botschaft mitgeteilt hat; keiner wohlfeilen forte-Versuchung wurde nachgegeben – fast durchweg verblieb sie im p und pp und gewann gerade dadurch auch für ihre bedrohlichen Paukenschläge die größte Wirkung.

Mit diesem »Wozzeck« hat die zeitgenössische Opernregie – stellvertretend für das Theater überhaupt – ihre gesellschaftliche Aufgabe als öffentlicher Raum des Nachdenkens über die conditio humana aufs Eindrucksvollste bewiesen und ihre bisweilen banausisch kritisierten hohen Subventionen mehr als gerechtfertigt. Es gibt kein wichtigeres Thema.

Nächste Vorstellung: 21. April

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