Stuttgarter Koalition des nachholenden Fortschritts

Grün-Rot hat Vorbilder – ausgerechnet im Osten, wo die finanzschwachen Länder von »Schwaben-Euros« leben

  • Marian Krüger
  • Lesedauer: 3 Min.
»Die Zeit des Durchregierens von oben ist zu Ende«, verkünden Grüne und SPD in der Präambel ihrer Stuttgarter Koalitionsvereinbarung. Die nun regierende Koalition will »Brücken bauen, um die Spaltung unserer Gesellschaft zu überwinden.« Aus diesen Worten spricht das Bedürfnis, die unionsgeführte Mappus-Vorgängerregierung weiter an den Pranger stellen zu können, die den »inneren Zusammenhalt« Baden-Württembergs aufs Spiel gesetzt« habe.

Das Erbe der CDU-Ära hat es in sich: Die milliardenschweren Verpflichtungen für das Großprojekt Stuttgart 21, der von Mappus eingefädelte EnBW-Deal, mit dem das Land noch enger an die Atomwirtschaft gekettet wurde und schließlich eine Finanzplanung, die für die Jahre 2012/13 Risiken und Deckungslücken in Höhe von rund fünf Milliarden Euro ausweist. Mappus machte für diese finanzielle Misere des Landes vor allem seine Verpflichtungen für den Länderfinanzausgleich verantwortlich. Man zahle zu viel an Berlin, Rheinland-Pfalz und an andere SPD-regierte Bundesländer. Weil die mit dem guten schwäbischem Geld über ihrer Verhältnisse lebten, käme es überhaupt zu der Schieflage, gegen die das Land nun in Karlsruhe klagen wolle.

Diese Drohung ist durch den Finanzminister der grünroten Regierung, Nils Schmid (SPD), erst kürzlich erneuert worden. Hier gibt es keinen Wechsel, sondern ein informelles Bündnis mit den anderen süddeutschen Unionsregierungen, die ebenfalls zur Attacke gegen den Länderfinanzausgleich blasen.

Für den neuen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) ist der Politikwechsel am deutlichsten in der »neuen Ausrichtung der Bildungspolitik« erkennbar. »Das baden-württembergische Schulsystem ist nicht auf der Hohe der Zeit. Es ist sozial ungerecht und basiert auf dem Prinzip des Aussortierens«, heißt es in der Koalitionsvereinbarung.

Nun soll es zu einem flächendeckenden Ausbau der Ganztagsschulen und zur Einführung eines Rechtsanspruches auf einen Kitaplatz bis 2013 kommen. Auch die Studiengebühren werden 2012 wieder abgeschafft. Und es soll einen Einstieg in die »Gemeinschaftsschule für alle Kinder bis Klasse 10« geben.

Für das seit Bestehen der Bundesrepublik tiefschwarz regierte Bundesland ist das in der Tat ein Aufbruch zu neuen Ufern. Verglichen mit dem rot-rot regierten Berlin, wo die letzten drei Kitajahre gebührenfrei sind, es keine Studiengebühren und 17 Gemeinschaftsschulprojekte gibt, ist das alles eine nachholende Modernisierung. Auch beim angekündigten Tariftreuegesetz, das öffentliche Aufträge an Tariflöhne koppeln soll, ist Grün-Rot in Stuttgart Nachzügler. Das trifft auch für die industrie- und energiepolitischen Ziele der Landesregierung zu. Bis 2020 sollen etwa zehn Prozent des Stroms durch Wind erzeugt werden. Spitzenreiter in diesem Bereich ist übrigens das rot-rot-regierte Brandenburg.

Die politische Bedeutung dieser nachholenden Modernisierung liegt jedoch darin, dass sie in einem der wirtschaftstärksten Bundesländer stattfindet. Und dass die Union in einer ihrer wichtigsten Hochburgen gerade wegen Reformblockaden abdanken musste. Auch deswegen konnten sich Kretschmann und Schmid erfolgreich das Mäntelchen des Aufbruchs, der Fortschritts- und Wachstumskoalition umhängen.

Ob das der Koalition beim vorprogrammierten Konflikt um Stuttgart 21 weiter hilft, wird man noch sehen. Die Grünen haben ihren Wahlsieg nicht zuletzt der Protestwelle gegen das Großprojekt zu verdanken. Ob sie die für Oktober 2011 angekündigte Volksabstimmung, die ein »abschließendes Urteil« über das Projekt fällen soll, gewinnen, ist offen. Die SPD ist für den Milliardenbahnhof, die Grünen dagegen. Das lässt an Hamburg denken, wo die Grünen mit 2008 auf der Woge des Protestes gegen das Kohlekraftwerk im Stadtteil Moorburg in die Regierung surften. Doch sie verhinderten den Bau nicht. Bei den Bürgerschaftswahlen zog die LINKE dort übrigens mit fast 16 Prozent an den nur noch 6,6 Prozent starken Grünen vorbei.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal