Vorbild besonderer Art

In Neuwied (Rheinland-Pfalz) unterrichtet eine ertaubte Schulleiterin gehörlose Kinder

  • Nina Borowski, dpa
  • Lesedauer: 3 Min.
Sie leitet eine Schule für Gehörlose und Schwerhörige in Neuwied und ist selbst gehörlos – Ute Jung kann nur durch eine Innenohrprothese wieder hören. Ihre Erfahrungen gibt sie an die Schüler weiter.

Neuwied. Ute Jung ist durch eine Autoimmunerkrankung medizinisch gehörlos – und sie ist Schulleiterin. Die Landesschule für Gehörlose und Schwerhörige (LGS) in Neuwied ist eine von drei Schulen in Rheinland-Pfalz, die sich auf beeinträchtigte Kinder und Jugendliche spezialisiert hat. In Deutschland ist es die erste Schule mit einer gehörlosen Schulleiterin.

Dank Cochlea-Implantaten kann Ute Jung wieder hören. Nach einer Innenohrentzündung im Herbst 2000 verlor die 49-Jährige auf der linken Seite das Gehör. Für die passionierte Lehrerin war das ein herber Schlag. Nach einer Erholungsphase wollte sie wieder in den Beruf einsteigen, als im August 2001 auch das rechte Ohr ertaubte. »Da habe ich erlebt, wie mein Hören über Nacht gestorben ist.«

Für jemanden, der früher hören konnte, sei es sehr schwer, auf einmal gehörlos zu sein, sagt Jung.

Aufgrund der erneuten Erkrankung und der Ertaubung sollte Ute Jung für dienstunfähig erklärt werden und in Pension gehen. Doch das konnte sie sich zu keinem Zeitpunkt vorstellen. Jung war mit Leib und Seele Lehrerin und wollte dafür kämpfen, es weiter sein zu können. Dabei helfen sollte eine Innenohrprothese. Cochlea-Implantate (CI) wandeln Schall in elektrische Impulse um, durch die der Hörnerv in der Hörschnecke (Cochlea) stimuliert wird. Die Prothese besteht aus zwei Teilen: den Implantaten im Ohr und einem Sprachprozessor mit einer Sendespule außen.

Klänge wie vom Roboter

Die Implantate waren wie der Beginn eines neuen Lebens. »Ich musste das Hören wieder lernen und üben. Viele Geräusche konnte ich nur schwer einordnen und alles klang metallisch. Mir bekannte und vertraute Stimmen klangen auf einmal wie ein Roboter«, sagt Ute Jung.

Die damals 40-Jährige hat gekämpft. Sie versucht, wieder ein normales Leben zu führen. Der Wunsch, zurück in den Beruf zu gehen, hat ihr Kraft und Mut gegeben. Ihr Weg sollte jedoch nicht zurück an die alte Schule gehen. Die Klassen waren zu groß und die Akustik ermöglichte es ihr nicht, so wie vor der Ertaubung zu unterrichten. Doch Ute Jung wäre nicht so weit gekommen, wenn sie an dieser Stelle aufgegeben hätte. Sie hospitierte an der LGS in Neuwied. »Mir ist das Herz aufgegangen, als ich gemerkt habe, dass das Unterrichten in kleinen Gruppen funktioniert.« Nur 13 Monate nach der Ertaubung entschied sie sich für ein Aufbaustudium in Heidelberg, um anschließend an der LGS in Neuwied unterrichten zu können. Im November 2005 trat sie ihre Stelle als Förderschullehrerin für Hörgeschädigte an. Vier Jahre später wurde sie Schulleiterin.

Im Umgang mit den Kindern merkt die Lehrerin, dass sie sich in viele Situationen besser in die Kinder hinein versetzen kann. »Besonders die kleineren Kinder sind erstaunt, dass ich auch CI habe. Bei den älteren Kindern und Jugendlichen merke ich, dass sie oft meine Verhaltensweisen imitieren.«

Mit unterstützender Technik und anderen Gesprächsregeln und Kommunikationshilfen können die beeinträchtigten Kinder all die Dinge lernen, die auch hörende Kinder lernen können. In den Klassen herrscht mit maximal zwölf Kindern eine familiäre Atmosphäre. Die LGS in Neuwied bietet neben verschiedenen Schulformen auch Beratung, Frühförderung und Integrationshilfe an. 85 Lehrer und pädagogische Fachkräfte betreuen über 500 hörgeschädigte Kinder und Jugendliche.

Orientiert an Fähigkeiten

Jung geht in ihrem Beruf auf: »Als Schulleiterin ist das Unterrichten für mich wie eine Oase. Und das möchte ich mir nicht nehmen lassen.« Ihr Wunsch für die Zukunft ist es, die Kinder nicht an ihren Defiziten, sondern an ihren Fähigkeiten zu orientieren und ihnen ein starkes Selbstbewusstsein mit auf den Weg zu geben.

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