Welcher Weltanschauung folgen die Russen?

Stimmungen und Lebenswerte der heutigen russischen Gesellschaft im Spiegel von Umfragen

  • Dmitri Tultschinski (RIA-Nowosti)
  • Lesedauer: 4 Min.
Es mag im »vorkapitalistischen« Russland an vielem gefehlt haben, eines galt den meisten Sowjetbürgern als sicher: Ihre Weltanschauung war die aussichtsreichste, weil sie auf dem Marxismus fußte und die Welt wissenschaftlich erfasste. Heute herrscht statt Mangel- zwar Marktwirtschaft mit reichem Angebot (von dem längst nicht alle etwas haben), aber die einheitliche Weltanschauung gibt es nicht mehr.
Russland sucht nach neuen Lebenswerten. Die einen wollen die Vorbilder der westlichen Zivilisation verinnerlichen, die anderen das nationale Selbstbewusstsein wiedererwecken und einen eigenen, russischen Weg beschreiten. Für eine neue Weltanschauung dürfte das so bald nicht reichen. In der wirrsten Periode der Perestroika entstand ein Dokumentarfilm, dessen Titel dem damaligen Zeitgeist entsprach: »So kann man nicht weiter leben« beschrieb das in Korruption, Kriminalität und Krise versumpfte Land. Zehn Jahre später glauben die Russen Umfragen zufolge zwar immer noch, dass sie mehr verloren als gewonnen haben, aber die allgemeine Stimmung ist: So lässt sichs leben! Das belegen soziologische Erhebungen des Instituts für komplexe Sozialforschung und des Unabhängigen Instituts für soziale und nationale Probleme (beide Moskau), die im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung angestellt wurden. Russland hat in seiner vierten, relativ unblutigen Revolution im 20. Jahrhundert vier Phasen durchlaufen: Erwartung, Euphorie, Enttäuschung und Entmutigung. Ein Freund formulierte den Leidensweg so: »Was man uns über den Sozialismus erzählte, war eine Lüge. Was man uns über den Kapitalismus erzählte, entpuppte sich als Wahrheit.« Erst jetzt erholt sich die Nation langsam. Das muss natürlich nicht heißen, dass sich die objektiven Lebensverhältnisse verbessert haben. Vielleicht hat man sich nur an die Unbilden gewöhnt und sich den neuen »Spielregeln« angepasst. Vor fünf Jahren wähnten drei Viertel der Russen ihr Land und ihr Leben jedenfalls in einer Sackgasse und nahe der Degradierung. Inzwischen hat sich die Stimmung gewandelt: Heute meinen viele, Russland bewege sich zwar auf Umwegen, aber in die richtige Richtung. Noch immer sind über 40 Prozent der Russen der Ansicht, sie hätten durch die »Reformen« eher verloren, vor allem in materieller Hinsicht. Nur 15 Prozent behaupten von sich das Gegenteil. Aber immerhin bewerten zwei Drittel der Befragten ihren Lebensstatus als befriedigend, 40 Prozent zählen sich zur Mittelschicht. Manchem im Westen werden diese »Mittelklässler« vielleicht als arme Hunde erscheinen, aber es zählt die Selbsteinschätzung. Wer mehr oder weniger zufrieden ist, wird kaum mit Pflastersteinen werfen. Das russische Massenbewusstsein teilt das vergangene Jahrzehnt klar in die Jelzin-Epoche und die Zeit danach ein. Wladimir Putin hat nach Meinung von 37 Prozent der befragten Russen nichts am Hut mit Jelzins Reformen. 12 Prozent ahnen oder hoffen gar, Putin werde rückgängig machen, was Jelzin begonnen hat. Putin wird indes nicht als Abgott oder Held betrachtet, sondern als Natschalnik, mit dem die meisten kein Problem haben. Das lässt sich von Putins Vorgängern nicht so sagen. Jeweils ein Drittel der Russen gibt Jelzin und Gorbatschow die Schuld an dem erlittenen Unglück - mehr als der KPdSU, dem »äußeren Feind« und den »Dermokraten« (Scheißdemokraten). 30 Prozent der Befragten gaben zu, dass man selber das Debakel mit zu verantworten habe. Zunehmende Fähigkeit zur Selbstkritik ist sicher ein gutes Zeichen. Was beweinen die Russen am Dahingegangenen, was wissen sie am Erworbenen am meisten zu schätzen? Ganz oben auf der Minusliste stehen das »gesunkene Lebensniveau«, die »zersetzte Moral« und das »angeschlagene Ansehen Russlands«. Die Gewinnspalte wird eröffnet vom »gesättigten Warenmarkt« und gefolgt von der Rede-, Religions- und Ausreisefreiheit. Obwohl nur 5 Prozent der Russen ins Ausland reisen und leider nicht so viele, wie man es möchte, vom Angebot der schicken Läden Gebrauch machen können, lernt die Bevölkerung Errungenschaften der neuen Entwicklung schätzen. Zur Demokratie stehen die Russen eher skeptisch, weil das Land in ihren Augen von denjenigen regiert wird, die Geld und Macht haben. Über 80 Prozent der Befragten bezeichneten die Gleichheit vor dem Gesetz als obersten Orientierungswert. Danach folgten in der Werteskala (des Wünschbaren): die Unabhängigkeit der Gerichte und die direkte Präsidentenwahl. Daraus schlussfolgern die Meinungsforscher, dass man nach Ansicht der meisten Menschen in Russland nur schwer Recht bekommt, die einzige Hoffnung sei ein starker und autoritärer Herrscher. Wahlen, Pressefreiheit, Parteienvielfalt liegen irgendwo in einem abstrakten Feld und sind daher wenig brauchbar. Und jegliches persönliches Engagement hat wenig Wert. Kurzum, die Mehrheit der Russen versteht Demokratie nicht als Resultat solidarischer Aktionen in einer Zivilgesellschaft, sondern als die von einer »obersten Instanz« verordnete, rechtschaffene Lebensweise - eine »gelenkte Demokratie«, wie sie Putin seinerseits durchzusetzen versucht. Agressivität und Zynismus schritten im »wilden Kapitalismus« am schnellsten fort, während Ehrlichkeit, Großherzigkeit, Aufrichtigkeit und Uneigennützigkeit abnahmen. Wohlstand und Macht rangierten vor Freiheit und ruhigem Gewissen - eine Mentalitätskatastrophe. Doch die Forschungen ergeben, dass der Patient in Genesung begriffen ist, dass das Geistige, die Hochschätzung der Werte, dem bloß Materiellen immer mehr Boden abzugewinnen scheint. Die Menschen sehen die Zunahme der »Laster« eher als Normabweichung denn als neue Tugend. Sie entschuldigen zwar den Gewissenszwang mit Überlebensdrang im neuzeitlichen »Spiel ohne Regeln«, aber halten ihn schließlich für Sünde, was wiederum Hoffnung auf Reue und Läuterung macht. Skizzenhafte Informationen über Stimmungen und Lebenswerte der heutigen russischen Gesellschaft können sicherlich kein ganzheitliches Bild geben. Klar ist nur, dass es auf absehbare Zeit keine vorherrschende Weltanschauung geben wird.

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