Schornsteine und Seidenschwanz

Heute wird der Schriftsteller Erik Neutsch 80 Jahre alt

  • Klaus Walther
  • Lesedauer: 5 Min.
Schornsteine und Seidenschwanz

Als gelegentlicher Besucher des Leipziger Gewandhauses sah ich, wie sehr verschiedene Dirigenten die selbstbewussten Damen und Herren in Gang brachten oder in Schach hielten. Der alte Schwede Blomstedt hob sein Stöckchen nur zehn Zentimeter und schon donnerte ein Fortissimo durch den Raum. Kurt Masur, der bärtige Löwe, schwang dagegen seinen Taktstock, dass ich annahm, er würde dem Konzertmeister in die Kehle fahren, und es gab auch ein Fortissimo. Große Musik also, ganz unterschiedlich erzeugt. Und ich dachte, dass dieses Beispiel wohl auch für andere Kunst zutreffen könnte.

Den einen reicht ein Rummelplatz, ein Laden, eine Aula, der andere aber braucht gleich die halbe Welt, zumindest den Osten. Unter sechzehn Schornsteinen und etlichen Dutzend Baustellen macht er es nicht. Und in der Ferne sieht er schon die Jahre der ruhigen Sonne. Nun, die Leser, die er hat, und die ihm auch aus jüngeren Jahrgängen zuwachsen, wissen, von wem hier die Rede ist. Mittlerweile sieht er mit gefurchter Stirn und Bart ein bisschen aus wie Hemingway; mit ihm hat er ja auch den Anfangsbuchstaben des Vornamens gemein. Und der Protagonist in seinem berühmtesten Buch, dieser Zimmermann, der ist nicht das tapfere Schneiderlein, sondern ein männliches Schwergewicht.

Literatur entsteht also aus ganz verschiedenen Quellen und bewegt sich auf sehr unterschiedlichen Feldern. Da wollen wir denn bei dieser Gelegenheit den Namen nennen, der den Lesern im Osten nun seit einem halben Jahrhundert bekannt und vertraut ist. Erik Neutsch und seine Bücher sind ein nicht wegzudenkendes Stück dieser vergangenen DDR, und er selber ist einer, der immer wieder von ihr erzählt, weil sie seine Spur des Lebens auch ist.

Aber Erik Neutsch, der auf einen Vorwurf, er schaufle die Realität in seine Bücher, antwortet: »Besser so, als dass diese Realität nur mit Teelöffeln serviert wird«, er hat durchaus auch eine Neigung zu solchen Teelöffeln. Kürzlich fragte er mich, ob meine Enkeltochter, Biologie-Doktorandin, ihm nicht einmal einen Blick in ein modernes Elektronenmikroskop ermöglichen könne. Wozu brauchen Roman-ciers vom Schlage Erik Neutsch solche Einblicke? Wer Neutsch liest, wird ja mehr den Autor großer Geschichten und Konflikte lesen und nicht den Jongleur glänzender Details, die man freilich auch bei ihm finden kann. Man schaue sich nur mal die Anfänge und Schlüsse seiner Bücher an, dann wird man wissen, was ich meine.

Notabene: Ich wage zu behaupten, wäre er kein Schreiber geworden, so hätte aus ihm wohl ein bedeutender Ornithologe werden können. Es scheint kein Zufall zu sein, dass seine Wohnorte in Halle die Namen Vogelherd und Spechtweg trugen, wenngleich er »Spur der Steine« noch in einer alten Villa in der Friedensstraße schrieb und nunmehr am Fünften Buch von »Friede im Osten« in der Ellen-Weber-Straße schreibt. Freilich, die Hallenser Schauspielerin, die l992 verstarb, gehört wohl doch nicht zu seinen direkten politischen Vorfahren. Da sieht er schon andere, den Weltenfahrer und Revolutionär Georg Forster, den er ebenso beschrieben hat wie den Maler Matthias Grünewald in dem Roman »Nach dem großen Aufstand«. Ein Buch übrigens, das bisher kaum so recht gewürdigt wurde, obwohl es das verdient hätte. Aber um beim Thema Ornithologie zu bleiben: Erik, der sich für einen Feldornithologen hält, er erzählte kürzlich einmal ganz glücklich, dass der Seidenschwanz, dem er seit siebzig Jahren nachstellt, endlich ein Einsehen hatte und sich eines schönen Wintertages an Neutschs Futterhäuschen im Garten niederließ. Auch das gehört also zu diesem Autor, den wir durchaus nicht auf ein Denkmalpodest stellen wollen.

Er lebt ja, er schreibt, konsequent wie auch in anderen Lebenssituationen, am Fünften Buch des Romanwerkes »Der Friede im Osten«, das ja schon im Titel die große Vision trägt, die Hoffnung, mit der und für die er schreibt. Manchmal ist man anderer Meinung als er, und er ist anderer Meinung als der Freund. Aber das behindert solche Freundschaft nicht, die sich eben im gegenseitigen Recht auf eigene Meinung realisiert. Die hat er sich erhalten, ein langes Leben lang, da hat er manchen Anstoß erregt und manche Zustimmung erfahren. Und obwohl er es eigentlich nicht mit dem Glauben hat, hat er sich diesen Glauben an eine bessere Welt erhalten. Und dass dazu mehr gebraucht wird als eben solcher Glauben.

Und etwas will ich hinzufügen: Dieser Mensch hat auch eine ganz heimliche Liebe zu seiner Heimatstadt Halle, wenn er aus dem Fenster seines kleinen Hauses über die Dächer blickt. Da guckt er in die Landschaft des Saalekreises bis zum Petersberg. Und er schaut immer wieder in ihre Geschichte, die ein Teil seiner Lebensgeschichte geworden ist. Heute wird er mit Freunden, mit seiner Gefährtin, seiner Frau ein wenig feiern, aber morgen schon wird er wieder am Laptop sitzen und Sätze schreiben in jenem Manuskript, das den Titel trägt »Plebejers Unzeit oder Spiel zu dritt«. Das ist, würde er vielleicht sagen, das Glück des Alters, mitgelebt zu haben, was man nun für andere beschreiben kann, diese Spur des Lebens.

Klaus Walther ist Autor des Interviewbandes »Erik Neutsch – Spur des Lebens« aus der Buchreihe von »Neues Deutschland« und »Das Neue Berlin« (240 S., geb., 16,95 €).

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