Einsames Grollen

Dostojewskis »Aufzeichnungen aus dem Untergrund« im Theater unterm Dach

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 3 Min.
Selbstverachtung: Iljá Pletner düstert als Wasilij vor sich hin.
Selbstverachtung: Iljá Pletner düstert als Wasilij vor sich hin.

Er könnte sich gut damit beschäftigen, auf alles Schöne und Erhabene zu trinken, sagt er. Macht er aber nicht. Wassilij düstert lieber vor sich hin. Früher hatte er als Beamter sein Auskommen. Nach einer Erbschaft stieg er aus. Nun grollt er in seinem Kellerloch in St. Petersburg, dieser ihm künstlich erscheinenden Stadt. Gedanklich nimmt er die Welt auseinander und setzt sie wieder zusammen, wie es ihm in den Sinn kommt. Gutes kommt dabei nicht heraus. Der Mensch ist schlecht. Die Welt ist schlecht. Er ist schlecht. Auf jeden Fall ist er schlecht dran, mit seinem in die Isolation gerutschten Leben. Aber der 40-Jährige meint, das hätte er verdient.

Nach Fjodor Dostojewskis kurzem Roman »Aufzeichnungen aus dem Kellerloch« schuf Inka Bach die ins Heute versetzte 120-minütige Theaterfassung »Aufzeichnungen aus dem Untergrund«. Die Gruppe okapi-productions brachte das Stück im Theater unterm Dach unter der Regie von Ingrun Aran zur Premiere. Der sogenannte moderne Mensch braucht theoretisch niemanden. Über das Internet kann er sich mitteilen. Wassilij geht es nur darum. An Diskussion ist er nicht interessiert. Manchmal gibt er sich dem Computerspiel hin. Da bringt er jeden Gegner um. Im Stück wird das Virtuelle nicht gleich deutlich. Während die vordere Bühne gut den Lebenswinkel eingrenzt, empfindet man die Internetseiten auf der Rückprojektion mit Film zunächst als zu weit entfernt. Erst als sich ihr Inhalt erschließt, kommt die Sache näher.

Neueste Nachrichten tauchen auf. Zugleich Name und Foto des Autors Tschernyschewski, dessen Buch »Was tun?« von 1863 – Lenin übernahm später den Buchtitel – Dostojewski 1864 zur Veröffentlichung der »Aufzeichnungen« angestachelt hatte. Beide vom zaristischen Regime verbannt, setzten so eine hochinteressante Auseinandersetzung über die Chancen des Individuums bei der Veränderung der Gesellschaft in die Welt. Tschernyschewski hielt sie für vorhanden, das Gute im Menschen voraussetzend. Dostojewski ließ seinen zynischen Kellerbewohner dagegenhalten. Die Natur des Menschen widerspreche der Sache. Wassilij führt die Gier nach dem eigenen Vorteil ins Feld.

Es wirkt, als sträube sich der Dostojewski-Stoff etwas, ins Heute geholt zu werden. Das ist entweder so gewollt oder noch nicht besser gekonnt. Die alte Zeit haftet an, selbst wenn letztlich erkennbar wird, dass der Protagonist mit dem Internet die Vorteile der Zeit nutzt, sich von ihr aber angegriffen fühlt. Er verachtet sich wegen seiner durch die Elektronik begünstigten Spielsucht. Innerlich zerrissen, steigert er sich in die eigene Erniedrigung.

Die gespaltene Persönlichkeit – wie man das verstehen kann – wurde von der Regisseurin doppelt und zugleich ausgezeichnet mit Muttersprachlern besetzt, um sich überzeugend auch in Russisch und Englisch mitzuteilen. Sympathisch menschlich unvollkommen wie kraftvoll spielen das die Wahlberliner Iljá Pletner, geboren im ukrainischen Dnepropetrowsk, und Victoria Pickett, aus Los Angeles stammend.

Im zweiten, zeitlich zurückliegenden und mehr erzählerisch geprägten Teil des Stücks verkörpert Pickett einen, den moralischen Niedergang seines Herrn wahrnehmenden, Oberwasser gewinnenden Bediensteten und einen herablassenden Kollegen. Dazu kommt die Schauspielerin Iris Boss als Hure. Deren Niedergang beschreibend spielt sich Pletner als Retter auf. Jedoch bereits fern jeglichen sozialen Empfindens, kann er nicht helfen. Zwangsläufig muss er versagen.

So vermittelt sich das Gefühl der Isolation und seiner Defizite insgesamt gut. Auf dem Flyer zum Stück versucht Wassilij vergeblich durchs Mauerwerk mit der Aufschrift »?ac ty??« zu brechen. Emotional aufgeladen wird das Stück durch Simon Franzkowiaks Tongestaltung.

25.6., 20 Uhr, Theater unterm Dach, Danziger Str. 101, Prenzlauer Berg, Tel.: (030) 902 95 38 17

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