Sensation im Tagebau
Nördlich von Zeitz in Sachsen-Anhalt wird ein riesiges Gräberfeld aus der Jungsteinzeit ausgegraben
Behutsam schabt Elisabeth Pawlak Erde zwischen zwei Rippenbögen weg. Kein Knöchlein soll beschädigt werden. Immer wieder nimmt sie einen Pinsel, um freipräparierte Stellen besser sichtbar zu machen. Seit Stunden schon befreit sie das Skelett vom Ackerboden, in dem es rund 4500 Jahre lag.
Inzwischen weiß die Archäologin, es handelt sich um einen Mann. Überraschend ist für sie jedoch, dass er seinen knochigen linken Arm auf ein Kind legt – oder das, was von diesem blieb. Beide waren zusammen bestattet worden. Weshalb? »Das wissen wir noch nicht«, sagt Pawlak. Auch ob beide eines natürlichen Todes starben, lasse sich noch nicht sagen. Auf den ersten Blick wären keine Verletzungen sichtbar.
Die 38-Jährige koordiniert eine der spektakulärsten archäologischen Ausgrabungen in Deutschland: ein riesiges Bestattungsareal mit gut 500 Gräbern. Dass es in der Jungsteinzeit, also 2700 bis 2300 vor Christi angelegt wurde, erkannte sie schnell. So etwa anhand von Grabbeigaben: steinerne Streitäxte, da man noch kein Metall kannte, Schmuck aus Knochen oder Tongefäße mit markanten Verzierungen. »Schnurkeramik«, erläutert sie. »Man drückte damals mit Schnüren das umlaufende Rillenmuster ein.«
Fündig waren die Experten vom Hallenser Landesmuseum für Vorgeschichte im so genannten Vorfeld des Tagebaus Profen. Der breitet sich zwischen dem sächsischen Pegau und dem sachsen-anhaltischen Zeitz aus. Bevor die Bergleute eine Grube erweitern, dürfen zunächst ausgiebig die Archäologen ran. »Das gibt uns einzigartige Möglichkeiten, wie wir sie nie hätten, wenn man im Erdreich unter einem Neubau stets nur ein kleines Stück in die Vergangenheit graben kann«, erzählt Museumssprecher Alfred Reichenberger. So aber ließen sich großflächig komplexe Siedlungsverlagerungen quer durch die Zeiten sichern und erforschen.
Wegzehrung für die Toten
Dank dieser Funde weiß man nun, dass hier, wo bergtechnisch gesehen das Böhlener Oberflöz auf das Sächsisch-Thüringische Unterflöz stößt, einst eine große Siedlung existierte. Und man weiß, dass deren Bewohner sesshafte Bauern waren, die europaweit Handel trieben. In den bereits freigelegten Gräbern fanden sich etwa eine Schleifennadel aus Zypern und baltischer Bernsteinschmuck.
Reichenberger ist denn auch der Mibrag GmbH, die den Tagebau betreibt, sehr dankbar. Man arbeite nicht nur bestens zusammen, der Kohleförderer habe 2004 sogar eine Archäologiestiftung initiiert und diese mit einem Grundkapital von 3,3 Millionen Euro ausgestattet. So war im Tagebau Profen bereits 2008 das bislang am reichsten ausgestattete germanische Fürstinnengrab entdeckt worden. Die Stätte aus der Zeit um das Jahr 50 nach Christi enthielt massiven Goldschmuck mit einem Gesamtgewicht von 394 Gramm.
Die Gräber, die Elisabeth Pawlak derzeit untersucht, sind indes deutlich älter. Einige Dutzend waren samt dem umgebenden Erdreich vorsichtig ausgehoben und in großen Kisten nach Halle gebracht worden. Am Stadtrand errichteten die Forscher Schleppdächer, unter denen sie wie unter Laborbedingungen arbeiten können. Wo genau, das bleibt geheim. Es gab schon Grabräuberei im Tagebau, kaum dass die ersten Gräber gefunden wurden. Der Schaden war beträchtlich.
Unheimlich beredsam seien jene Gerippe, versichert die Archäologin. Sie verrieten, ob es sich um Mann oder Frau handelte, wie alt sie waren, was sie damals aßen, was sie arbeiteten, an welchen Krankheiten sie litten, in welcher Weise sie siedelten, wie sie starben. In den Tongefäßen finden sich zudem Essensreste, die ihnen die Hinterbliebenen für ihren Weg ins Jenseits mitgaben.
Spannend sei auch, so Pawlak, Familienzusammenhänge herzustellen und so mehr über das Leben in einer Gruppe zu erfahren. Ein Frauenskelett trug etwa eine komplette Kette aus Knochenpailletten und Hundezähnen. »Das ist sehr selten und war aufwendig zu fertigen.« Die Frau sei offenbar eine wichtige Person gewesen, sagt die Hallenserin, die ihre Arbeit »Traumjob meines Lebens« nennt.
Biotope rekapitulieren
Selbst die Erde wird in einer Flotieranlage, die die einzelnen Partien behutsam mit Wasser aufwirbelt, noch haarfein untersucht. Jede Krume lässt sich so auf mögliche verborgene Samen, Minischerben, Knochensplitter, Wollfäden oder kleinste Schnecken durchforsten. »Wir können so die gesamte Umwelt zurückverfolgen, etwa komplette Biotope aus der Zeit vor 4500 Jahren authentisch rekapitulieren«, sagt Museumssprecher Reichenberger: »Gab es hier Wald, Wiesen, Äcker? Was wurde angebaut? Regnete es viel?« Ausgewählte Skelette werden später mit Kunstharz ausgegossen und im Hallenser Landesmuseum für Vorgeschichte ausgestellt.
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