Dialektik an der Neiße

In Görlitz/Zgorzelec kann man erleben, wie Europa zusammenwächst und im Alltag funktioniert

  • Harald Lachmann
  • Lesedauer: 4 Min.
Im Mai 1998 wurde die Europastadt Görlitz/Zgorzelec proklamiert. Wer tiefer in die örtliche Geschichte eindringen will, sollte bei einem Stadtbummel unbedingt auch die Neißebrücken queren. Dabei trifft er nicht nur auf die Wirkungsstätte Jakob Böhmes oder das Haus, in dem im Jahr 1950 die Oder-Neiße-Grenze festgelegt wurde.
Blick auf Zgorzelec am östlichen Ufer der Neiße
Blick auf Zgorzelec am östlichen Ufer der Neiße

Friedrich Hegel nannte ihn den »ersten deutschen Philosophen«. Der romantische Dichter Novalis pries ihn als »Träger einer geheimen Offenbarung«. Die deutsche Wissenschaftsgeschichte führt ihn als Philosophus teutonicus. Die Rede ist von Jakob Böhme, dem wohl größten Sohn der Stadt Görlitz im Osten Sachsens. Doch ein Wohn- oder Gedenkhaus des gottesfürchtigen Schuhmachers, der als ein Vater der Dialektik gelten kann, findet man hier nicht. Jedenfalls nicht westlich der Neiße.

Und doch gibt es ganz in der Nähe ein schön restauriertes Haus, das sich dem Leben und Wirken Jakob Böhmes widmet. Um es zu finden bedarf es allerdings gewissermaßen einer Blickerweiterung – auf jenseits des Grenzflusses. Denn dort, in Zgorzelec, wie Görlitz auf Polnisch heißt, geht die Stadt weiter. Ein historisch rundes Görlitz-Bild erschließt sich denn auch nur dem, der auch die ostneißischen Stadtteile durchstreift – zumal seit Ende 2007 an der Staatsgrenze keine Passkontrollen mehr stattfinden.

Prachtvolles Pendant

Oberbürgermeister Joachim Paulick sieht das gleichfalls so. Zu jedem auch nur halbwegs offiziellen Anlass spricht er nur noch von der »Europastadt Görlitz/Zgorzelec«, auch wenn er lediglich für den deutschen Teil die Amtskette übergestreift bekam. Als sich Görlitz um die europäische Kulturregentschaft 2010 bewarb, bezog er wie selbstverständlich die polnische Schwesterstadt mit ein. »Hier in Görlitz/Zgorzelec«, sagt Paulick, »kann man erleben, wie Europa zusammenwächst und im Alltag funktioniert.« Zwei Brücken verbinden beide Hälften unkompliziert wie seit 1945 nicht mehr. Vor allem wer die Straßenbrücke am Stadtpark über die Neiße nimmt, merkt kaum, dass er de facto noch immer das Land wechselt.

Die urbane Dichte ist im Osten höher als auf deutscher Seite. Und für die sanierungsbedürftig am Ufer dahin dämmernde Görlitzer Stadthalle findet der Besucher auf polnischer Seite ein prachtvolles Pendant: die frühere Oberlausitzer Ruhmeshalle.

Seit 1948 heißt die Halle Miejski Dom Kultury, zu Deutsch: Städtisches Kulturhaus. Noch immer beeindrucken die 42 Meter hohe Kuppel samt Säulengang, beide dem Berliner Reichstag nachempfunden, sowie die Figurengruppen »Krieg« und »Frieden« an der äußeren Fassade. Die Reliefs darüber schuf der Dresdner Bildhauer Reinhard Schnauder. Ein Blick ins Innere des Dom Kultury lohnt unbedingt, schon der 21 Meter hohen Eingangshalle wegen. Auch die Konferenzsäle sowie eine interessante Galerie mit zeitgenössischer Kunst lassen sich besichtigen.

Zur feierlichen Einweihung des neoklassizistischen Gebäudes, welches ein lauschiger Park mit großem Teich umschließt, reiste einst sogar Kaiser Wilhelm II. an. Zum historischen Ort wurde das Haus dann 1950, als hier die DDR und Polen die Oder-Neiße-Grenze festlegten. Am 5. Mai 1998 proklamierten sich Görlitz und Zgorzelec im Dom Kultury zur »internationalen Europastadt«.

Während Görlitz über weite Strecken betulich wirkt, pulsiert in Zgorzelec das Leben. Geschäftig geht es vor allem unweit des Kulturhauses in der ul. Stefana Okrzei zu. Sie verlängert sich über die ul. Kazimierza Pulaskiego bis zum Maly Rynek, dem quirligen Wochenmarkt. Wer weiter geradeaus bummelt, stößt auf den Park Paderewskiego. Von hier immer nach links geht es dann wieder Richtung Neiße.

Museum der Lausitz

Am Bulwar Grecki, dem Griechischen Boulevard, ist der Fluss erreicht. Hier sieht man schon die Altstadtbrücke unterhalb des Görlitzer Peterskirche. In der Uferstraße ul. Daszynskiego – benannt nach einem früheren polnischen Regierungschef und Parlamentspräsidenten – finden sich etliche Spuren auch sächsischer Geschichte. In schön restaurierten Handwerkerhäusern, die nun wieder in den traditionellen Görlitzer Stadtfarben Rosé und Rot-Gelb leuchten, befinden sich kurz vorm Freisitz einer Pizzeria erst das Museum der Lausitz (Muzeum Luzyckie) und gleich daneben das Jakob-Böhme-Haus (Dom Jakuba Böhme).

Ersteres erinnert daran, dass Görlitz – erstmals 1071 als slawisches Dorf Goreliz erwähnt – Lausitzer beziehungsweise sächsische Wurzeln hat. Denn erst beim Wiener Kongress 1815 war die Stadt Preußen zugeschlagen und damit in die Provinz Schlesien eingegliedert worden. Das viergeschossige Haus aus dem 18. Jahrhundert erlaubt interessante Einblicke in Kultur und Alltag der Menschen im Neißeraum.

Ein Relief am Gebäude daneben weist darauf hin, dass hier der Schuster Böhme von 1599 bis 1610 lebte, Fußwerk flickte und tiefgründig über Gott und die Welt grübelte. Parterre gibt es heute eine Galerie samt Atelier, darüber eine Gedenkstube für Jakob Böhme. Begraben liegt Böhme übrigens wiederum auf deutscher Seite, auf dem Görlitzer Nikolaikirchhof – womit sich der Kreis denn schließt.

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