Reigen der Alltagsbitternisse

»Pauschalreise« eröffnete das Festival »Almanci!« im Ballhaus Naunynstraße

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Nach 50 Jahre »Scheinehe« kann man sich den Partner ja einmal näher betrachten. Das Festival »Almanci! 50 Jahre Scheinehe«, das im Ballhaus Naunynstraße auf 50 Jahre Migrationsgeschichte seit dem Abschluss des Anwerbeabkommens zwischen der Bundesrepublik und der Türkei im Jahre 1961 zurückblickt, lädt auf eine sehr niedrig-schwellige Art und Weise dazu ein: Freundlich, ja herzlich wird ein jeder empfangen, der das Gelände des früheren Ballhauses betritt. Hausherrin Shermin Langhoff eilt zwischen unterschiedlichen Gästegruppen umher.

Dass es nicht nur atmosphärisch, sondern auch ästhetisch und inhaltlich eine solche Erweiterung darstellt, wird zu Beginn des Festivals ebenfalls deutlich. »Almanci! 50 Jahre Scheinehe« aktiviert zunächst eine Figur, die es auf deutschen Bühnen schon lange nicht mehr gab: Den Arbeiter. Im Eröffnungsstück des Festivals, einer nur 20-minütigen Kammeroper, hat Ayhan Sönmez sich einen braunkarierten Anzug jener Machart zugelegt, wie ihn in den 60er und 70er Jahren Männer trugen, die sich aus den eher östlichen Winkeln der Türkei auf ins »Deutsche-land« gemacht hatten, um dort Werftarbeiter, Autobauer und Bergleute zu werden. Es wird das beste Stück Stoff gewesen sein, das diese Männer besaßen, und ein Hinweis darauf, dass sie die Welt der Arbeitskluften nur für ein Zwischenstadium auf dem Weg ins kleine bürgerliche Glück hielten.

In Filmen wie »Der Friseur«, die von diesem Aufbruch in eine neue Welt erzählen, und die in dem das Festival begleitenden Filmprogramm »Gegen die Leinwände« im Ballhaus und im Eiszeit-Kino gezeigt werden, kann man diese Anzüge auch sehen. In solch einem Anzug eben erzählt Sönmez von einem Türken, der durch die verschneite Naunynstraße läuft, dabei in Gedanken zum Blaufischfang in der Bucht von Bebek schreitet, sich aber eigentlich doch auf dem Weg zu seinem Schrottschmelzofen in Berlin befindet. Und dabei blasen die Bläser der kleinen Kapelle die Luft durch den Treppenschacht des Ballhauses; etwas von der Wehmut südlicherer Gegenden weht herein, aber auch der Stakkato-Ton Brecht-Weillscher Proletariergesänge.

Es ist vergessene, verdrängte, überlagerte Historie, die hier inszeniert wird. Ganz ins Heute geholt wird man von der Videoinstallation »All we need is Education«, in der ein Chor der vom Ballhaus betriebenen Akademie der Autodidakten den Düsterhit »We don't need no Education« von Pink Floyd in sein lebensbejahendes Gegenteil verkehrt.

Wichtigster Programmpunkt des Auftakts des Festivals ist allerdings die Inszenierung »Pauschalreise«, der Abschluss von Lukas Langhoffs Trilogie über türkische Einwanderergenerationen. Sie beschäftigt sich mit der ersten, der angeworbenen Generation, schlägt aber auch den Bogen zur Enkelgeneration.

Mit Wolkenwatte ausgelegt ist der Boden. Auf den Rundhorizont sind ein blauer Himmel und weitere weiße Schäfchenwolken aufgemalt. Enkel und Großeltern lassen dabei verschiedene Episoden Revue passieren, die in Form eines Reigens angeordnet sind. In der ersten Situation beklagt eine junge Frau (Kader Arslan) gegenüber ihrem Großvater (Nuri Sezer) die Konventionalität des gesamten Migrantenmilieus: »Wir sind seit 50 Jahren hier, unsere Familie hat 40 Mitglieder, aber es findet sich nicht einer darunter, der anders wäre als die andern.« Die Beobachtung an sich überrascht nicht, es verblüfft, dass sie ausgesprochen wird.

In der zweiten Episode wehrt sich eine Großmutter (Sema Poyraz) erfolgreich gegen die Überlistungsversuche einer schon gut in der Berliner Immobiliengaunerwelt angekommenen jungen türkischen Deutschen (Duygu Sebnem Ince). Die letzte Episode gilt einer Mutter, die auf der Jagd nach dem in Deutschland leichter zu erreichendem Gelde ihren Sohn zur Schwester in die Türkei gibt und ihn als ein psychisches Wrack zurückerhält.

»Pauschalreise« ist ein Reigen der individuellen Alltagsbitternisse, die nicht nur deutsche Türken treffen können, die aber durch die Bedingungen von Einwanderung häufiger produziert werden. Unverständlich bleibt nur, warum bei dieser Eigenproduktion der Aspekt der aus politischen Gründen aus der Türkei geflohenen Menschen, von denen nicht wenige noch heute rings um die Naunynstraße wohnen, außer acht geblieben ist.

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