Kraftstrotzender Albtraum

Das »Freedom Theatre« aus Palästina ist auf Deutschlandtournee

  • Ekkehart Krippendorff
  • Lesedauer: 4 Min.

Das zeitliche Zusammentreffen ist ungeachtet der Tragik ein Glücksfall: Während die gerade eröffnete Jahresvollversammlung der UNO in New York ganz im Zeichen des dramatischen Aufnahmeantrags Palästinas als jüngster Mitgliedsstaat steht, unternimmt eine Theatertruppe aus Jenin, einer der vier großen Städte der »Westbank«, eine Deutschland-Tournee mit dem selbst erklärten Auftrag, Authentisches über das Leben der Palästinenser mitzuteilen. Jenin ist zugleich ein großes Flüchtlingslager mit mehr als 5000 Kindern und Jugendlichen, denen unter israelischer Besatzung und erzwungener Bewegungs-Unfreiheit seit mehr als vierzig Jahren ein normales Leben zu führen unmöglich ist.

Das vor 20 Jahren von einem palästinensischen Israeli – Sohn einer jüdisch-israelischen Mutter und eines arabisch-israelischen Vaters – gegründete »Freedom Theatre« versucht, diesen Jugendlichen eine Stimme und einen Ort zu geben, an dem sie sich selbst und ihre komplexe Identität erleben und artikulieren können. Es wird finanziell unterstützt von »medico international«, einer jener humanitären Hilfsorganisationen, die, auf unsere Spenden angewiesen, eine aufopfernde und vor Ort eindrucksvolle Arbeit leisten – zum Beispiel eben mit dem jetzt durch deutsche Städte tourenden Theaterstück. Dies wurde gemeinsam erarbeitet von jungen Leuten, für die das Theater ein neuer Lebensinhalt und eine reale Hoffnung bedeutet, aus der Falle von Gewalt und Gegengewalt, die sie eindrücklich und bis an die Grenze des vom Zuschauer Erträglichen gehend darstellen, wenigstens auf der Bühne auszubrechen. Das wird besonders deutlich in den sich jeder Vorstellung anschließenden Publikumsgesprächen.

Was wir sehen ist eine Orgie der Gewalt, zusätzlich angetrieben von einer gewalttätigen Musik, die Inszenierung eines Albtraums, gespielt von sieben kraftstrotzenden jungen Männern, eher noch Kinder, keine Frauen. Die palästinensische Gesellschaft ist eine maskulin dominierte Gesellschaft, die ihre inneren Konflikte auch mit physischer Gewalt, Folterung bis hin zum Mord, austrägt; der Theatergründer Juliano selbst, der sich Feinde bei den Israelis ebenso wie bei den Islamisten gemacht hatte, war im April dieses Jahres von noch immer unbekannten Tätern brutal ermordet worden – im jetzt gezeigten Theaterstück »Sho Kman – Was noch?« lebt der unverarbeitete Schock über diese brutale Tat und den Verlust des charismatischen Gründers in jeder Szene fort.

Was das Stück mit erbarmungsloser Deutlichkeit zeigt, ist eine für den außenstehenden, zeitungslesenden Beobachter und möglichen Sympathisanten mit den endlich einen eigenen Staat einklagenden Palästinensern bittere Wahrheit: Diese sind nicht lauter idealistische Friedens- und Freiheitskämpfer, keine reinen Helden des Kampfes gegen israelische Fremdherrschaft und Unterdrückung, sondern gezeigt wird, offensichtlich aus dem Erfahrungsfundus der Jugendlichen selbst, dass die palästinensische Gesellschaft im Laufe der Jahrzehnte selbst zu einer gewalttätigen, brutalen, nicht zuletzt frauenfeindlichen Gesellschaft geworden ist (die völlige Abwesenheit von Frauen im Stück ist nicht zu übersehen – nur eine tritt auf und stellt sich als verkleideter Mann heraus). Die Gewalt, die die jungen Schauspieler mit eindrucksvoll choreografierter und musikalisch unterstützter Energie und Kraft vorführen, ist so stark internalisiert, dass sie ihnen zur zweiten Natur geworden zu sein scheint und, einschließlich der Folterungen, mit geradezu lustvoller Begeisterung ausgespielt wird. Bis auf wenige arabische Worte ist dies ein Theater der Körpersprachlichkeit. Der Rezensent gibt zu, dass es ihm dabei etwas unwohl, ja unheimlich wurde, scheint es doch da keinen Ausweg aus dem selbst mitverschuldeten Gefängnis und Teufelskreis der Gewalt zu geben – jedenfalls wurde der nicht einmal als Möglichkeit angedeutet.

Wenn bei der Diskussion aus dem Publikum erklärt und vom Regisseur und Direktor Nabil Al-Raee bestätigt wurde, dass es so etwas wie »humanitäre Gewalt« gebe, dann hätte er am liebsten das Theater unter Protest gegen diesen perversen Begriff verlassen. Der Weg zur Freiheit wird, selbst bei anerkannter palästinensischer Staatlichkeit, noch sehr weit sein, und das Freedom Theatre wird auf diesem Wege noch viel zu klären haben.

Bis 27.9., Schaubühne, 20 Uhr, danach in Hamburg, Bonn, Kiel, Freiburg, Karlsruhe und Marburg

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