Bröckelt Einsteins Relativitätstheorie?

Sensationelles Experiment: Physiker messen Neutrinos, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen

  • Lesedauer: 4 Min.
Die Geschichte der 1905 von Albert Einstein begründeten speziellen Relativitätstheorie ist auch eine Geschichte ihrer gescheiterten Widerlegungen. Die erste stammt von dem deutschen Physiker Walter Kaufmann, der bereits 1905/06 die »Massenveränderlichkeit rascher Elektronen« im Experiment überprüfte und dabei ein für Einstein ungünstiges Resultat erhielt. Andere Messungen sprachen hingegen für die Relativitätstheorie. Die Lage blieb jedoch lange verworren, da all diese Experimente, wie sich 1938 herausstellte, nicht präzise genug waren, um die von Einstein abgeleitete Geschwindigkeitsabhängigkeit der Masse zu verifizieren. Das gelang erst 1940 einem Physikerteam in den USA.

Seit einigen Tagen nun wankt Einsteins Thron erneut. Oder besser gesagt die Relativitätstheorie, die natürlich wie jede Theorie zu korrigieren wäre, sollten neue Experimente dies verlangen. Und ein Wissenschaftler wie Einstein hätte sich darüber vermutlich als Letzter beschwert. Im Gegenteil. Er begrüßte allen Fortschritt in der menschlichen Erkenntnis, zu dem er selbst maßgeblich beigetragen hatte. Will sagen: Was immer die Naturforschung künftig auch erbringen mag, Einsteins Rolle als Jahrhundertgenie der Physik bleibt davon unberührt.

Doch zu den Fakten: Nach der Relativitätstheorie ist es einem Teilchen strikt »untersagt«, sich schneller als das Licht zu bewegen. Gegen dieses Verbot haben nun mutmaßlich jene Teilchen verstoßen, die den Physikern generell mysteriös vorkommen: Neutrinos. Erzeugt wurden die elektrisch neutralen und nahezu masselosen Elementarteilchen im Rahmen des sogenannten Opera-Experiments am europäischen Kernforschungs᠆zentrum CERN bei Genf. Von hier aus schickte man sie auf eine 730 Kilometer lange Reise, die in einem Bleidetektor im italienischen Gran-Sasso-Massiv ihr Ende fand. Um die Geschwindigkeit der Neutrinos zu bestimmen, verwenden die Opera-Forscher seit Jahren eine auf GPS und Atomuhren basierende Technologie, die extrem genaue Messungen ermöglicht. Diese ergaben, dass über 15 000 Neutrinos für die zurückgelegte Strecke 60 Milliardstel Sekunden weniger Zeit benötigten als das Licht und damit dessen Geschwindigkeit um 0,002 Prozent überboten.

Monatelang überprüften die Forscher ihre Daten. Doch sie konnten keinen Fehler finden, so dass sie schließlich übereinkamen, ihre Ergebnisse zu veröffentlichen. Dies geschah auch in der Absicht, andere Wissenschaftler zu einer Wiederholung des Experiments anzuregen. Dazu fähig wäre man derzeit nur am Fermilab in Chicago, da der japanische Detektor »Super-Kamiokande« seit dem Erdbeben vom 11. März außer Betrieb ist.

Allerdings kann eine solche Bestätigung dauern, denn das Opera-Experiment ist enorm kompliziert, wie der Münchner Physiker Lothar Oberauer bestätigt: »Spontan fallen mir ein Dutzend Wege ein, wie man eine solche Messung verhunzen könnte.« So wird die Geschwindigkeit eines Neutrinos nicht einfach über die Differenz zwischen Start- und Ankunftszeit bestimmt. Vielmehr entstehen die Teilchen am CERN in einem Zeitfenster von zehn Millionstel Sekunden und kommen derart zeitverteilt auch im Gran-Sasso-Massiv an. Die Auswertung der Daten erfordert also eine aufwendige statistische Analyse, die leicht zu Fehlern führen kann.

Mehrere Opera-Mitarbeiter haben es ohnehin abgelehnt, mit ihrem Namen für die Richtigkeit der publizierten Resultate zu bürgen. Darunter ist auch die deutsche Physikerin Caren Hagner, die das Experiment selbst für gelungen hält. Doch bei einem so spektakulären Effekt wie der Überlichtgeschwindigkeit wäre es ihrer Ansicht nach sinnvoll gewesen, mehr Tests durchzuführen und die statistische Analyse zu verbessern. Kurzum: »Der Zeitpunkt der Veröffentlichung war verfrüht.«

Am CERN sieht man das natürlich anders. Rolf Heuer, der dortige Direktor, erklärte lapidar: »Wir sind korrekt vorgegangen.« Dennoch bleibt abzuwarten, ob die erhobenen Daten Bestand haben werden. Zumal es ein gewichtiges Gegenargument aus dem Bereich der Astronomie gibt. Die Rede ist von der Supernova 1987A, die sich in der Großen Magellanschen Wolke ereignete, und bei der unzählige Lichtteilchen und Neutrinos ins All geschleudert wurden. Wären die Neutrinos damals so schnell gewesen wie jetzt behauptet, hätten sie um drei bis vier Jahre vor dem Licht auf der Erde eintreffen müssen, sagt Hagner: »Die Teilchen kamen aber gleichzeitig an.« Man könnte nun einwenden, dass die Opera-Neutrinos wegen ihrer größeren Energie einfach schneller waren. Aber auch das überzeugt Hagner nicht, da eine derart starke Abhängigkeit der Geschwindigkeit von der Energie bisher niemand beobachtet habe.

Noch wiegt die zigfache Bestätigung der speziellen Relativitätstheorie für viele Physiker schwerer als ein umstrittenes Experiment. Aber selbst wenn es gelingen sollte, dieses in anderen Laboratorien erfolgreich zu wiederholen, wäre das nicht das Todesurteil für Einsteins Theorie. Vermutlich müsste man aber deren Anwendungsbereich dann genauer bestimmen. Und vielleicht läge darin sogar eine Chance, um in der Physik neue Denkwege einzuschlagen.
Übrigens, auch im Netz wird derzeit recht geistreich über die überlichtschnellen Neutrinos gewitzelt. Fragt ein Elektron ein solches: »Hast du schon gehört, dieser Einstein soll sich geirrt haben?« Darauf das Neutrino: »Weiß ich längst, stand schon nächstes Jahr in der Zeitung.«
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