Jüdisch und moralisch

Ilan Pappe über Wissenschaft als Herrschaftsdienst

  • Helge Buttkereit
  • Lesedauer: 3 Min.

In kaum einem anderen Land dürften Geschichtswissenschaftler solche Aufregung ernten wie die »Neuen Historiker« in Israel. Was nicht verwundert. Schließlich kratzen Benny Morris, Avi Shlaim, Tom Segev, Shlomo Sand oder Ilan Pappe seit Ende der 1980er Jahre heftig am Gründungsmythos des Staates. So sehr, dass einige von ihnen - wie Pappe - mittlerweile zu den Geächteten in Israel gehören, andere hingegen in den Schoß der zionistischen Mehrheitsgesellschaft zurückkehrten. Pappe hat nun seine Geschichte aufgeschrieben.

Das Buch handelt vor allem vom Streit um die Deutung des Jahres 1948. Der Autor brachte die Bezeichnung der Palästinenser für ihre Vertreibung, »Nakba«, erstmals an eine israelische Universität. Pappe spricht auch offen über den eigenen Bewusstseinswandel. »Ich erinnere mich nicht an den genauen Moment des Erwachens, aber es gab einen solchen Moment, als mir das Unjüdische und Unmoralische des Projekts klar wurde. Ich setzte - und tue dies immer noch - Jüdischsein und Moral gleich. Nicht im Sinne einer Überlegenheit gegenüber anderen Positionen, sondern eher als ein angenehmes Erbe, auf das ich mich verlassen kann, wenn ich moralische Urteile fälle.« Selbst an der Universität, einer Stätte freien Geistes, wie man meinen könnte, ist es für Pappe und andere noch heute oft unmöglich, ihre Positionen darzulegen. Eine von Pappe 2003 einberufene Konferenz über neue Erkenntnisse zur Gründung des israelischen Staates konnte nur als informelles Gespräch in der Cafeteria der Universität stattfinden. Des Autors Fazit: »Ich versuchte nicht, weitere Konferenzen einzuberufen, und ich wurde auch zu keiner eingeladen.«

Die Ausgrenzung traf ebenso Freunde; einer seiner besten wurde getadelt, »weil er im Aufenthaltsraum des Lehrkörpers einen Kaffee mit mir getrunken hatte«. Die feindliche Stimmung wuchs. Es gab Todesdrohungen. Pappe suchte einen Zufluchtsort im Ausland und fand diesen im englischen Exeter. Sein Beispiel zeigt, dass die einzige Demokratie im Nahen Osten, als die sich Israel gern preist, sich gegenüber Kritikern im eigenen Land ebenso wenig demokratisch aufführt wie gegenüber den israelischen Palästinensern und insbesondere den Menschen in den besetzten Gebieten.

Pappe zerstört in seinem Buch den Mythos von der israelischen Demokratie gründlich. Er sollte allerdings bei Vergleichen und damit implizierten Lösungsvorschlägen etwas vorsichtiger sein. Das Jugoslawien-Tribunal war keineswegs neutral, die Ereignisse in Bosnien, Kroatien oder Kosovo sind ebenso umstritten wie die Geschichte der Staatsgründung Israels. Hilfreich erscheint da eher der ebenfalls von Pappe und anderen vorgenommene Vergleich mit Südafrika und die dortige Überwindung der Apartheid. Denn dieser zeigt, wie schwer Aussöhnung ist, dass diese aber dennoch möglich und notwendig ist - weil die Menschen miteinander leben, miteinander auskommen müssen.

Ilan Pappe: Wissenschaft als Herrschaftsdienst. Laika Verlag. Hamburg 2011. 189 S., geb., 19,90 €.

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