Der gute Ton

Kleist-Jahr: Edith Clever und Inge Keller lesen

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 4 Min.

An diesem Wochenende ist Berlin eine Hauptstadt der hohen Sprache. Heute, Samstag, liest Edith Clever (rechts, Foto: Thomas Aurin) in der Akademie der Künste; morgen, Sonntag, liest Inge Keller (links, Foto: Iko Freese / Drama) im Deutschen Theater. Zwei phänomenale Schauspielerinnen, und ein großer Text - beide lesen Heinrich von Kleists Novelle »Die Marquise von O ...«.

Es ist dies die Geschichte einer Frau, an der sich just jener Graf vergeht, der sie soeben vorm vergewaltigenden Zugriff einer groben Soldaten-Rotte bewahrt hatte; die junge Witwe war in Ohnmacht gefallen, nun wird sie unwissend schwanger und sucht per Annonce den Vater. Das steigert sich zum unerbittlichen Kampf um Wiedergutmachung - in dieser Marquise steckt eine Penthesilea.

Denn: Die Frau behauptet sich nicht nur mit souveräner Unverwirrbarkeit gegen jene Verrätselung der Welt, die ihr da auf peinigende Weise widerfuhr, sie wehrt sich vor allem gegen die erlittene Brutalität, und zwar, indem sie raffiniert zurückschlägt. Die Novelle endet zwar in Liebe (zum Grafen), aber die Marquise erkämpft, zwischenzeitlich hassend, einen formalen Akt der Sühne, sie zwingt diesen Kerl zum Ritual der Schandbekundung. Ein starkes Stück weiblicher Würdefeier.

Gewalt als ein roher Akt verdorbener Soldatennaturen wäre von der jungen Witwe wahrscheinlich zu verschmerzen gewesen. Aber dass die Gewalt ausgerechnet von jenem Manne ausging, den diese Marquise mit ihrem Erwachen aus der verhängnisreichen Ohnmacht doch zu lieben begonnen hatte - eine solche Gewalt, mit der sich einer nahm, was die Frau zu geben bereit gewesen wäre: Das entzieht sich der Vergebung.

Es liest Edith Clever, Protagonistin aus den Edelzeiten von Peter Steins Westberliner Schaubühne: damals eine Hervorragende inmitten, danach eine hauptsächlich Einsame. Wodurch? Durch die Grazie eines marmornen Tons, der die Sprache radikal unmodisch aufhebt im Unzeitlichen und der im Reinen ist mit sich und mit dem Zauber von Dichtung und Dramatik. Das Künstliche nicht als Flucht, sondern als Zielvorgabe einer Poesie, die mit Stolz und Hochmut und Anmut und Schmerz gegen die Welt blüht - und die sich an der Welt lieber blutig schlägt, als ihr zu gleichen. Das Wort als schönste, schärfste, verletzlichste Vorahnung, die man freilich immer erst hinterher hat und die daher einer ewig erneuerbaren Energie gleicht - wovon die Unsterblichkeit der besten Dichter rührt.

Es liest Inge Keller, Protagonistin aus den Edelzeiten von Wolfgang und Thomas Langhoffs oder Alexander Langs Deutschem Theater, kristalline Klarheit bei Schleef und Thalheimer: eine Preußin, die Vokale und Konsonanten binden kann oder klirren lassen kann, als stecke in einem Seidenhandschuh eine Eisenfaust. Sagte man der Keller, Sprache sei Beton, sie bewiese uns umgehend dessen Tränendurchlässigkeit. Und sie beließe es als ihr Geheimnis, ob dies durch Härte oder Zartheit bewirkt wird. Auch sie glaubt unbeugsam an Dichters Wort und schwärmt, unermüdlich arbeitend, von bewahrter deutscher Sprache als der guten, alten - Zukunft.

Clever und Keller: Der Rhythmus der einen lang ins Ferne gezogen, die andere vielleicht eher hierseitig, punktbezogen. Die eine im Gestus ganz schwingender Tanz, die andere eine Virtuosin der gefassten Distanz. Die eine hauchig hehr und hoch erhoben, die andere wohl etwas fester und ironienah. Erhaben beide. Wir sehen sie sprechen, und wir hören sie spielen. Und was schnöde Realisten landläufig so sagen von der Welt, kommt einem plötzlich entsetzlich unwirklichkeitsfremd vor. Ja, Unwirklichkeit als eine Welt neben der Welt, gegen die Welt, eine Welt des Wahrhaftigen.

Was Keller und Clever mitteilen, ist mehr, als sie jeweils lesen. Zwei Lehrerinnen aus der Schule des Atems, der keine Not kennt, weil er das Gesetz ist. Letzte, starke, vom Wort der Dichter stark verwundbar Gebliebene. Daheimgebliebene inmitten dieses schnell und schneller gewordenen Dahinrennens der Sprachjapser, die auf ihren Zungen keinen Bremsbelag mehr haben.

Geist und Körper: Kleist verkörpern. »Wenn unsre Kanzlerin«, sagt Martin Walser, »im Parlament ,Penthesilea' ungekürzt läse, wär' dieses Land noch zu retten.« Wär'! Wo so wenig noch zu retten ist, da wächst dennoch Rettung: sich in die Kunst retten zu können, zum Beispiel in die von Edith Clever und Inge Keller.

Heinrich von Kleist: »Die Marquise von O ...«, gelesen von Edith Clever am heutigen Samstag, 19.30 Uhr in der Berliner Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, und von Inge Keller am morgigen Sonntag, 11 Uhr im Deutschen Theater Berlin.

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