Gefährliches Leben an der Front

In Dörfern an der Waffenstillstandslinie des Karabach-Konflikts

  • André Widmer, Baku
  • Lesedauer: 6 Min.
Nach wie vor ist der Konflikt um das von Armeniern für unabhängig erklärte, völkerrechtlich jedoch zu Aserbaidshan gehörige Gebiet Berg-Karabach ungelöst. Zwischen 1991 und 1994 tobte im Südkaukasus ein blutiger Krieg. Seither bezichtigen sich Armenier und Aserbaidshaner gegenseitig immer wieder der Verletzung des Waffenstillstands.
Beim Ort Hüseyinli endet die Straße von Barda in die ehemalige Provinzhauptstadt Agdam im Niemandsland. Das kriegszerstörte Agdam liegt heute im armenisch besetzten Gebiet.
Beim Ort Hüseyinli endet die Straße von Barda in die ehemalige Provinzhauptstadt Agdam im Niemandsland. Das kriegszerstörte Agdam liegt heute im armenisch besetzten Gebiet.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich Tapkarakoyunlu nicht von anderen Dörfern Aserbaidshans. Gänse watscheln über die Straße, in den Gärten gedeihen Granatäpfel. Die Straßen sind holprig und ungeteert. Auf dem Dorfplatz treffen sich einige Männer. Doch das Leben hier ist alles andere als normal - es ist sogar sehr gefährlich. Tapkarakoyunlu liegt direkt an der Waffenstillstandslinie des Krieges um Berg-Karabach. Immer wieder gerät das Dorf unter Beschuss. Von einem Waffenstillstand, der seit 1994 offiziell zwischen Armenien und Aserbaidshan herrschen soll, kann hier keine Rede sein.

Wegziehen kommt nicht in Frage

2626 Einwohner zählt Tapkarakoyunlu, Wohngebäude unweit von armenischen Positionen sind besonders in Gefahr. So wie das Haus von Kamil Allahwerdijew (34). Es liegt etwa 150 Meter Luftlinie von einem armenischen Wachposten entfernt, der an einem Hügel errichtet wurde. Man erreicht Allahwerdijews Zuhause nur über eine ungeschützte Straße, weshalb der Fahrer die kurze Strecke mit freier Sicht auf den armenischen Posten rasend schnell hinter sich bringt.

Das Leben hier sei sehr schwierig und gefährlich, erklärt der Hausherr. Er zeigt Einschusslöcher an Dach und Wand; eine Mauer vor dem Haus hat er erhöht. »Jede Nacht sind wir in Angst«, sagt der Bauer. Dann kommt seine Mutter, zeigt Rezepte für Medikamente, die sie nach jedem Beschuss aus psychologischen Gründen zu sich nehme.

»Seit ich in die 7. Klasse ging, schießen sie. Ich kenne den Grund nicht«, berichtet Kamil Allahwerdijew. Er kennt kaum ein anderes Leben: zuerst der Krieg und jetzt, seit 1994, permanente Gefahr. Der Bauer pflanzt Birnen, Äpfel, Weintrauben und Nüsse an. Die Regierung habe ihm zwar anderes Land angeboten, das aber sei für Landwirtschaft unbrauchbar, meint er. Ein Wegzug aus dem Dorf kommt für ihn nicht in Frage. »Das hier ist unser Land«, erklärt er.

Man hat sich mit den Begebenheiten arrangiert. Die Kinder kennen einen sicheren Weg zur Schule, der zwischen den Häusern hindurch führt. Rund ein Drittel der Dorfbewohner sind in der Landwirtschaft tätig. Viele gehen allerdings nur nachts, bei Mondlicht, auf die Felder zur Arbeit, zur Bewässerung, weil sie tagsüber in Sichtweite der armenischen Soldaten sind. Wenn der Beschuss beginnt, verstecken sich die Dorfbewohner in Schutzräumen unter den Häusern. Geschossen wird nur sporadisch, es gibt kein klares Zeitmuster, was die Lage für die Zivilisten unberechenbar macht.

Allahwerdijews Nachbar wurde 2009 tödlich getroffen. »Wir hatten sogar Schwierigkeiten, seinen Leichnam zu bergen«, erzählt Kamil. Das letzte zivile Todesopfer armenischen Beschusses wurde in Tapkarakoyunlu am 25. April 2011 registriert. Der Name findet sich nun neben denen der anderen Dorfbewohner, die im Krieg oder danach fielen, an einer Gedenkwand wieder. Dorfvorsteher Abbas Allahwerdiiew erzählt, dass Beerdigungen - entgegen dem muslimischen Ritus, wonach der Tote noch vor dem Sonnenuntergang seine letzte Ruhe finden soll - nur nachts stattfinden können. Größere Menschenansammlungen sind gefährlich, sie könnten provozieren. Der Vorsteher zeigt den Friedhof: Er liegt am Ende des Dorfes, vor ihm zieht sich ein Schützengraben der aserbaidshanischen Armee entlang.

Der kleine Fluss Inca versorgt das Dorf mit Wasser. Doch etwa sechs Kilometer von der Ortschaft entfernt sperren ihn die Armenier des Öfteren ab. Das Reservoir liegt zwischen den gegnerischen Linien. Immer wieder zieht deshalb eine Gruppe von etwa 20 Männern los, um den Wasserspiegel mit Hilfe von Sandsäcken anzuheben, denn er liegt tiefer als das Dorf. Schaffen es die Männer vor Tagesanbruch nicht zurück, müssen sie sich stundenlang zwischen den Fronten verschanzen, um erst bei Dunkelheit wieder heimzukehren, erzählen sie. Das aserbaidshanische Militär wird über die Mission der Dorfbewohner jeweils im Voraus informiert. Erst jetzt, 17 Jahre nach dem Krieg, plant die aserbaidshanische Regierung laut Dorfvorsteher Abbas Allahwerdijew, eine 20 Kilometer lange Wasserleitung für die Versorgung der Siedlung zu schaffen.

Gelegentlich statten Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) dem Dorf ihren Besuch ab. Auch die armenischen Besatzer jenseits der Frontlinie werden darüber informiert. Natürlich fällt während solcher Besuche kein Schuss. »Nachdem die Beobachter gegangen sind, wird es dafür besonders heftig«, erzählt Bauer Kamil Allahwerdijew. Die Dörfler fühlen sich von der zahnlos agierenden OSZE nicht erhört und nicht wahrgenommen.

Wenn Beobachter kommen, schweigen die Waffen

Auch das Gehöft von Muhardiz Ismailow (59) liegt auf der gefährdeten Seite des Dorfes. Er zeigt auf ein Einschussloch oberhalb eines mittlerweile zugemauerten Fensters. Dann öffnet er wagemutig die Tür in die exponierte Richtung und zeigt, wo ein Projektil im Metalltor eingeschlagen ist. Ismailow ist Lehrer. Er geht ins Haus, holt einen großen Plastikbehälter und bietet dem Besuch Wein an. »Zivilisten sollten doch nicht getötet werden«, sagt er. »Wir wollen doch auch kein armenisches Territorium, sondern nur unser Land.«

Tags darauf in Gapanli, einer Siedlung im Bezirk Terter. Der Ort liegt ebenfalls direkt an der Waffenstillstandslinie. Hier ist die Landschaft ganz flach. Noch zu Kriegszeiten wurde deshalb ein etwa fünf Kilometer langer und drei Meter hoher Erdwall aufgeschüttet, der die Siedlung vor gegnerischem Beschuss schützen soll. An einer Ausfallstraße kurz hinter diesem Wall liegt das Anwesen Elchan Tariwerdijews (49). Trotz des Schutzes wurde sein Haus beschossen. 2003 starb sein Vater durch den Schuss eines Scharfschützen. Gerade ist Tariwerdijew dabei, eine zusätzliche Mauer zu bauen. Seine Frau hilft ihm beim Mischen des Betons.

Nachbar Ali Alijew (81) präsentiert derweil an einem benachbarten Beobachtungsposten das Problem: Ein Blick auf die gegnerischen Linien zeigt, dass der Schützenstand der Armenier auf einem wahrscheinlich extra aufgeschütteten Hügel gebaut worden ist. Der aserbaidshanische Posten am Wall ist dagegen selten besetzt. Zwar ist die Armee in der Gegend stationiert und gelegentlich sind Soldaten zu sehen. Deren Präsenz ist aber eher unauffällig. Schließlich will man die Dorfbewohner nicht zusätzlich gefährden, indem man die Armenier provoziert. »Wir hoffen, die Welt hört von unseren Lebensumständen und löst das Problem«, sagt Alijew.

Endstation vor der Demarkationslinie

Die Fahrt durch die aserbaidshanischen Frontdörfer führt weiter zur unterbrochenen Hauptverbindungsstraße von Barda nach Agdam. Die Stadt Agdam liegt im armenisch besetzten Teil Aserbai-dshans. Früher hatte sie 50 000 Einwohner, seit 1993 liegt sie in Schutt und Asche. Der Bahnhof Kücerli in der Provinz Terter ist die letzte noch betriebene Station vor der Demarkationslinie. Auf dem Gleis steht ein einsamer Zug. Vor dem Bahnhofsgebäude haben es sich zwei ältere Männer gemütlich gemacht und sind mit einem Brettspiel beschäftigt. Das Leben an diesem Außenposten ist fast zum Stillstand gekommen.

Zwei Kilometer weiter wurde außerhalb der Ortschaft Hüseyinli eine Polizeisperre errichtet, die man noch passieren darf. Nach weiteren 700 Metern folgen ein Armeeposten und ein Stoppschild. Hinter dem Schlagbaum versperrt ein Erdwall die Weiterfahrt in die armenisch besetzten Gebiete Aserbaidshans.

Muhardiz Ismailow hat ein Fenster seines Hauses zugemauert, um sich vor armenischem Beschuss zu schützen.
Muhardiz Ismailow hat ein Fenster seines Hauses zugemauert, um sich vor armenischem Beschuss zu schützen.
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