Der Griff des Eises

Auf der Ostsee hat der Winterdienst begonnen - alte Hasen sagen ziemlich frostige Zeiten voraus

  • Martina Rathke, dpa
  • Lesedauer: 4 Min.
Eis auf dem Meer entfaltet ungeahnte Kräfte und treibt Seetonnen meilenweit weg von der ursprünglichen Position. Damit Wasserstraßen im Winter befahrbar bleiben, gibt es einen »Winterdienst« auf der Ostsee.

Stralsund. »Eis ist unberechenbar.« Karl-Albert Stüwe hat in den vergangenen 20 Jahren alle vorstellbaren und unvorstellbaren Varianten von Eis auf den Küstengewässern Mecklenburg-Vorpommerns gesehen: riesige Eisschollenberge, die sich bis zu sechs Meter hoch türmten, zusammengepresstes Pfannkucheneis, zähen Eisbrei oder kilometerlange, spiegelglatt zugefrorene Eisflächen.

In der Wetterküche sind die Grundfaktoren prinzipiell immer dieselben: frostige Temperaturen, Windstärke und Windrichtung. Doch die Mischung macht's, ob das Eis sich zu einer unüberwindbaren Barriere für Schiffe auftürmt oder die Schifffahrtswege trotz tiefsten Frostes weiterhin gut befahrbar bleiben. Das weiß Stüwe, Leiter des Bauhofs im Wasser- und Schifffahrtsamt Stralsund, aus langjähriger Berufserfahrung.

Viele Ehrenamtliche

Die Mitarbeiter der Stralsunder Schifffahrtsbehörde - zuständig von der polnischen Grenze bis westlich von Kühlungsborn - arbeiten derzeit auf Hochtouren, um die Bundeswasserstraßen auf den nahenden Winter vorzubereiten. Seit zwei Wochen sind die amtseigenen Tonnenleger »Ranzow« und »Görmitz« sowie die »Stralsund«, »Rosenort« und »Oie« im Dauereinsatz, um auf 805 Kilometern die Betonnung auf den Winter umzustellen.

»Auf 350 Tonnen werden bis Anfang Dezember die Top-Zeichen entfernt, um sie vor witterungsbedingten Beschädigungen zu schützen«, erklärt Stüwe. Rund 100 der vier Meter langen grünen, roten, schwarzen und gelben Zeichen, die als Tonnenaufsätze der Schifffahrt Fahrrinnen und mögliche Hindernisse anzeigen, lagern bereits auf dem Tonnenhof der Stralsunder Behörde. Die Mitarbeiter der Werkstätten nutzen die Wintersaison, um die eingezogenen Tonnen und abgenutzten Seezeichen zu überholen. Mit einem Hochdruckreiniger - mit 500 bar rund fünfmal stärker als ein normaler Kärcher - befreien Wolfgang Steding und Klaus Schröder die Tonnen von einer bis zu zehn Zentimeter dicken Muschelschicht. Abgenutzte Top-Zeichen werden mit einem neuen Anstrich versehen.

Derzeit ist die Ostsee noch vergleichsweise warm. Auch in den nördlichen Ostseegewässern vor Finnland liegt die Temperatur noch über dem Mittelwert, wie Jürgen Holfort vom Eisdienst des Bundesamtes für Seeschifffahrt und Hydrographie berichtet. »Doch das kann sich ganz schnell ändern.« Derzeit schult das BSH 88 Ehrenamtliche entlang der Ost- und Nordseeküste, die bei Eisgang ihre Beobachtungen an die Behörde melden. Diese Informationen fließen in die Eisberichte ein, die unter anderem an die Schifffahrtsbehörden gehen.

Geht es nach Stüwes Nase, wird es auch in diesem Winter sehr kalt. Dabei wünscht sich der 64-Jährige für die letzte Wintersaison seines Arbeitslebens eigentlich nur eines: »Bitte kein Eis!« Zugefrorene Gewässer bringen nicht nur die Männer, sondern auch die Maschinen des WSA an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. »Unser Problemkind ist der Greifswalder Bodden, weil er salzärmer und flacher als die offenen Gewässer ist«, sagt Stüwe. Das Boddengewässer zwischen Rügen und Usedom ist die Lebensader für die Häfen von Stralsund, Greifswald, Vierow, Lubmin und Wolgast. Friert der Bodden zu, können die Häfen nicht arbeiten. Auch bei Eis müsse die Schifffahrt möglichst lange gewährleistet werden, andererseits müssen die Kosten dafür vertretbar bleiben. Die Umstellung auf den Winter folgt einem Zweistufenprogramm, wie Stüwe erklärt. Während bis Anfang Dezember die Top-Zeichen gesichert und die ersten Eistonnen ausgelegt sein müssen, beginnt Stufe zwei mit dem ersten Eis. Dann montieren die Besatzungen der Tonnenleger »Ranzow« und »Görmitz« die teuren Solarkompaktköpfe auf 125 Tonnen ab. Nahezu 60 Tonnen werden komplett eingezogen und 36 weitere Tonnen durch spezielle Eistonnen ersetzt.

30 Meilen weit geschoben

Welche Kraft Eis entfalten kann, weiß Stüwe aus jüngster Erfahrung. Im vergangenen Winter drückte das Eis eine vier Meter lange Tonne samt ihrem drei Tonnen schwerem Ankerstein vor Usedom rund 30 Seemeilen ostwärts

Trotzdem hielt sich der Gesamtschaden an den Tonnen im vergangenen Jahr mit 25 000 Euro in Grenzen, weil Tau- und Frostperioden kaum wechselten und auch heftige Stürme ausblieben - anders als im Winter 2009/10, als zwischenzeitlich 20 Seetonnen wegen des stärkeren Eisdrucks verloren gingen. Der Großteil wurde wiedergefunden, sagt Stüwe. Doch der Schaden schlug im vorletzten Jahr mit 85 000 Euro zu Buche. Eis ist unberechenbar.


1200 Seezeichen

Das Wasser- und Schifffahrtsamt in Stralsund ist für 805 Kilometer Bundeswasserstraße mit 1200 Seezeichen vor Mecklenburg-Vorpommern zuständig. Die zu betreuende Außenküste hat eine Länge von 260 Kilometern. Dazu kommen 1100 Kilometer Küste an den Haff- und Boddengewässern. Rund ein Drittel aller vor Deutschlands Küsten installierten Tonnen liegen vor den Küsten Mecklenburg-Vorpommerns. Zum Einsatz kommt das Mehrzweckschiff »Arkona«, das mit einer Leistung von 5400 PS das leistungsstärkste Schiff ist. Es kann bei einer Geschwindigkeit von fünf Knoten bis zu 50 Zentimeter dickes Eis brechen. Daneben werden die Tonnenleger »Görmitz« und »Ranzow« für den Eisaufbruch eingesetzt. Zum Bestand des Amtes gehören auch die Seezeichenmotorschiffe »Stralsund«, »Oie« und »Rosenort« sowie zwei Peilschiffe. (dpa)

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