Die Verschwörer und die Tugenden

Das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 - Preußens letztes Kapitel?

  • Prof. Dr. Kurt Finker
  • Lesedauer: ca. 10.0 Min.

Ein Aufstand des »wahren Preußentums« sei das Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 gewesen, hört man seit Jahr und Tag und im »Preußenjahr« erst recht. Es seien die »preußischen Tugenden« gewesen, die zur mutigen Tat motivierten. Unser Autor bietet eine Polemik anlässlich der alljährlich am 20. Juli im Berliner Bendlerblock erfolgenden Vereidigung von Rekruten der Bundeswehr.


In ihrem 1976 erschienenen Biografien-Band veröffentlichte Marion Gräfin Dönhoff auch eine Lebensbeschreibung des nach dem gescheiterten Anschlag hingerichteten schlesischen Widerstandskämpfers Dr. Peter Graf Yorck von Wartenburg - unter der Überschrift »Preußens letztes Kapitel«. Auf der Historikerkonferenz zum 40. Jahrestag des Attentats 1984 in Westberlin ging Dr. Ekkehard Klausa noch einen Schritt weiter: »Am 20. Juli 1944 hat der soldatische "Geist von Potsdam" noch kurz vor Toresschluss Hitlers "Tag von Potsdam" widerlegt - jenen Tag von 1933, an dem Hitler sich von Hindenburg symbolisch zum Erben Preußens salben ließ.« Dieses Urteil wird weiterhin kolportiert, so in der neuesten Ausgabe des Begleitbandes zur Ausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes »Aufstand des Gewissens«. Eine von der Friedrich-Ebert-Stiftung kürzlich in Potsdam veranstaltete Konferenz hatte das Thema »Preußen und der 20. Juli 1944« gleich zweimal auf der Tagesordnung - in Ost- und Westsicht. Ein Berichterstatter der Potsdamer »Märkischen Allgemeinen« glaubte beim Ost-Vortrag herauszuhören, dass in der DDR außer Stauffenberg »alle Hitler-Widerständler bis Mitte der 80er Jahre als Fast-Faschisten« galten! (Friedrich II. hätte sicher dazu am Rand vermerkt: »Er versteht nichts, Er kann nichts, Er kommt nach Cleve!«) Hans Wilderotter (Berlin) zeigte dagegen, dass und wie der 20. Juli nicht nur als »Preußengeist«, sondern auch als Gründungslegende der »rheinischen« BRD herhalten musste. Es ist bereits viel und kritisch dazu geschrieben worden, dass es in der DDR-Historiographie aus verschiedenen Gründen längere Zeit Einseitigkeiten und Defizite in der Beurteilung des 20. Juli 1944 gab. Dennoch, unbestreitbar galt marxistischen Historikern auch jenes Attentat als eine nationale Widerstandsaktion, an der sich auch Angehörige alter preußischer Adels-, Offiziers- und Beamtenfamilien beteiligten, die ihren ehrenhaften Einsatz in den meisten Fällen mit ihrem Leben bezahlten: so der schlesische Großgrundbesitzer und Jurist Helmuth James Graf von Moltke, der Märker Generalmajor Henning von Tresckow, die Potsdamer Major Hans-Jürgen Graf von Blumenthal und Oberstleutnant Fritz von der Lancken, die Ostpreußen Generalmajor Helmuth Stieff sowie der Gutsbesitzer und Oberleutnant d.R. Heinrich Graf von Lehnort-Steinort, die Pommerschen Großgrundbesitzer und Juristen Ewald von Kleist-Schmenzin und Oberleutnant d.R. Albrecht von Hagen, der aus Westpreußen stammende Leipziger Oberbürgermeister und Reichspreiskommissar Dr. Carl Goerdeler, ferner der Großgrundbesitzer und Hauptmann d.R. Ulrich-Wilhelm Graf Schwerin von Schwanenfeld, der Oberleutnant d.R. und Regierungspräsident Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg u.a. Doch was waren die Triebkräfte ihres Handelns, und wie stand es mit den preußischen Traditionen im Kampf gegen das NS-Regime? Die Mehrzahl der späteren Verschwörer hatte 1933 zunächst die Errichtung der faschistischen Diktatur begrüßt: Wiederaufrüstung und Einführung der allgemeinen Wehrpflicht schufen Aufstiegschancen. Rheinlandbesetzung, Liquidierung des »Versailler Diktats«, »Anschluss« Österreichs und des Sudetenlandes, demagogische Losungen wie »Volksgemeinschaft« und »Gleichberechtigung« taten ihre Wirkung, zumal sie auf der Basis eines wirtschaftlichen Aufschwungs infolge des Krisenzyklus, der seinen Tiefpunkt durchschritten hatte, und der Rüstungskonjunktur erfolgten. Der antifaschistische Widerstandskampf und seine Unterdrückung wurden - wenn überhaupt - lediglich marginal zur Kenntnis genommen, wohl auch deshalb, weil der politische Widerstand zu 75 Prozent kommunistisch, zu zehn Prozent sozialdemokratisch und lediglich zu drei Prozent christlich-bürgerlich war. Die Kommunistenjagd fand in diesen Kreisen Zustimmung. »Äußerlich ging das Leben in Berlin zunächst seinen gewohnten Gang«, schrieb General Dr. Hans Speidel in seinen Erinnerungen an das Jahr 1933, »von einem polizeilichen Druck war wenig zu spüren, das Rowdytum der SA war nur sporadisch«. Fast alle machten mit, einige indes mit wachsender Besorgnis, wie Generalstabschef Ludwig Beck, General Friedrich Olbricht, Ewald von Kleist-Schmenzin, Henning von Tresckow, Generalmajor Hans Oster und Dr. Carl Goerdeler. Aber Oberst Theobald Graf von Seherr-Thoß, Kommandeur des 7. Reiterregiments, erklärte vor seinem Regiment in Breslau: »Die jetzt an entscheidender Stelle der Regierungsverantwortung stehenden Nationalsozialisten haben wiederholt betont, daß sie ihre Ideologie aus dem Geist der Frontsoldaten entwickelt haben. Wenn das zutreffen sollte, könnten wir Soldaten nur froh darüber sein. Aber ich will Ihnen meine Skepsis nicht verhehlen. Ich werde Ihnen auch sagen, warum: Dieser Hitler ist meiner Ansicht nach kein Herr, sondern nur ein Kerl. Und daran wird seine Bewegung früher oder später zugrunde gehen.« Widerstand nach Gutsherrenart! Auf der erwähnten Potsdamer Konferenz wurde geäußert, zu künftigen Veranstaltungen ähnlicher Art auch polnische Historiker einzuladen. Wie nützlich das sein könnte, zeigt ein Blick in den schon 1995 in Deutsch erschienenen Band von Stanislaw Salmonowicz »Preußen. Geschichte von Staat und Gesellschaft« (Martin-Opitz-Bibliothek Herne). Es heißt darin über Widerstandsbewegungen und preußische Tradition: »Ein Großteil der Geschichte der Widerstandsbewegung der Wehrmacht ist die Geschichte unfruchtbarer Diskussionen und nicht ausgeführter Pläne. Die Opposition der Generäle verblieb in dem vom Milieu ererbten Teufelskreis typisch preußischer Ansichten aus der Tradition der Junker und Militärs. Die jahrhundertealte Tradition des Gehorsams band ihnen die Hände.« Dies korrespondiert mit einer Äußerung Bismarcks und ihrer Interpretation durch seinen Urenkel Leutnant Heinrich Graf von Einsiedel, der in der Zeitung »Freies Deutschland« vom 22. Januar 1944 schrieb: »"Der preußische Offizier geht dem sicheren Tod im Dienst mit dem Wort "Zu Befehl" furchtlos entgegen. Wenn er aber auf eigene Verantwortung handeln soll, fürchtet er die Kritik des Vorgesetzten und der Welt mehr als den Tod, dergestalt, daß die Furcht vor Verweis und Tadel die Energie und Richtigkeit seiner Entschlüsse beeinträchtigt." (Bismarck: Gedanken und Erinnerungen). Dieser von Bismarck so treffend charakterisierte Fehler des preußischen Offiziers ist in vollem Maße auf die deutsche Generalität übergegangen.« Für die große Mehrheit der »preußischen« Generalität galt das, was der bürgerlich-konservative Publizist Dr. Rudolf Pechel, 1942 bis 1945 Zuchthaus- und KZ-Häftling, bereits 1947 in seinem Buch »Deutscher Widerstand« schrieb: »Sie haben wider besseres Wissen gehandelt. Keiner von ihnen kann sagen, er habe nichts von den Verbrechen der SS in den überrannten Ländern, nichts von der Verfolgung der Juden in Deutschland und in den anderen Gebieten, nichts von den Konzentrationslagern, nichts von dem Wüten der Blutjustiz gewußt... Sie haben auch nicht aufbegehrt, als Hitler zu den schmutzigsten Mitteln einer Kriegführung griff, die diesen Namen nicht mehr verdiente... Für die Generäle war die Berufung auf den Fahneneid nur mehr eine feige Flucht vor dem eigenen Gewissen und der eigenen Verantwortung.« Erst als die Katastrophe nahte, suchten etliche Generäle und Beamte nach einem Ausweg und wurden Antinazis. Treffend bemerkte der sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Carlo Schmid im Bundestag bereits am 29. September 1949: »Wenn hier von einigen Fällen späterwachten Widerstandsgeistes gesprochen worden ist, dann sage ich, meine Damen und Herren: Konversionen nach Stalingrad sind demokratisch uninteressant.« Man sollte auch an solche Urteile erinnern angesichts einer Geschichtsideologie und Gedenkpolitik, die den späten konservativen Widerstand als die vorrangig zu bewahrende Tradition zu stilisieren bemüht ist, wie der Jenaer Historiker Ludwig Elm treffend schrieb. Die Widerstandsmotivation der meisten Generäle und hohen Beamten entsprang nicht einem imaginären »preußischen Geist«, sondern ist ihnen von den Alliierten an den Fronten des Krieges eingeprügelt worden! Dennoch sind auch sie selbstverständlich noch abzuheben von jener Masse faschistischer Offiziere, Beamten und »Volksgenossen«, die bis nach Schluss »führertreu« blieb und die Katastrophe vollendete. Es kommt hinzu, dass die Verschwörung auch schon von ihrer personellen Zusammensetzung her, insbesondere hinsichtlich der geistigen Führerschaft, keine rein preußische Angelegenheit war. Der Mutigste und in seiner politischen Erkenntnis relativ weit Vorgedrungene, Oberst Claus Graf von Stauffenberg, war Schwabe und hatte seine Jugend und frühe Soldatenzeit in Stuttgart und Bamberg verbracht. Ebenfalls kein Preuße war sein Bruder Berthold, der als Jurist einige Jahre am Internationalen Gerichtshof in Den Haag gearbeitet hatte. Oberstleutnant d.R. Cäsar von Hofacker, Vetter der Brüder Stauffenberg und treibende Kraft des Umsturzes im Stabe des Militärbefehlshabers in Frankreich, war Sohn eines württembergischen Generals und hatte in Tübingen, Göttingen und Graz studiert. Claus von Stauffenbergs Freund und Gefährte bis zur letzten Stunde, Oberst Albrecht Ritter Mertz von Quirnheim, wurde in München als Sohn eines bayerischen Offiziers geboren und kam erst 1920 als 15-Jähriger nach Potsdam, weil der Vater Präsident des Reichsarchivs wurde. Der Mitkämpfer und Organisator der Aktion, General Friedrich Olbricht, stammte aus Leisnig in Sachsen und hatte lange Zeit in Dresden gedient. Ludwig Beck, 1933 bis 1938 Generalstabschef, Mitglied der »Mittwochsgesellschaft«, stammte aus Bieberich in Rheinhessen und hatte u.a. auch in Ulm ein Kommando wahrgenommen. General Eduard Wagner kam aus Kirchenlamitz bei Hof und war 1914 Leutnant im bayerischen Feldartillerieregiment 12 geworden. Generalmajor Hans Oster, Leiter der Zentralabteilung im Amt Ausland/Abwehr, war in Dresden geboren worden und hatte vor dem Krieg dem sächsischen Feldartillerieregiment 48 angehört. Der Diplomat Dr. Adam von Trott zu Solz, »Außenminister« der Verschwörung, kam in Potsdam zur Welt, verlebte aber Jugend und Studienzeit im hessischen Familiensitz Imshausen bei Bebra, in München, Göttingen und in Großbritannien. Der SPD-Reichstagsabgeordnete, Freund und Berater Stauffenbergs, Dr. Julius Leber, war Elsässer, hatte in Straßburg und Freiburg studiert und politisches Profil in Lübeck gewonnen. Der Pädagoge Prof. Dr. Adolf Reichwein, der »Bildungsminster« der Verschwörung, studierte in Frankfurt (Main) und Marburg und war lange Zeit in Jena tätig. Der SPD-Reichsbannerführer Dr. Theodor Haubach, in Frankfurt (Main) geboren, hatte in Heidelberg studiert. Gewerkschaftsführer Wilhelm Leuschner stammte aus Bayreuth, hatte Studien- und Arbeitszeit in Leipzig, Nürnberg und Darmstadt absolviert und war von 1928 bis 1933 hessischer Innenminister. Der SPD-Reichstagsabgeordnete Dr. Carlo Mierendorff, im sächsischen Großenhain geboren, hatte seine Jugend in Darmstadt verlebt und in Frankfurt (Main), Heidelberg, München und Freiburg studiert. Der christliche Gewerkschaftsführer Jakob Kaiser war ein Franke aus Hammelburg bei Würzburg. Einige der Verschwörer sahen sich in der Tradition der preußischen Reformer des 19. Jahrhundert. So lebte in der Familie des Peter Yorck von Wartenburg die Erinnerung an den alten General Yorck, den Ururgroßvater, der 1812/13 mit der Konvention von Tauroggen den Auftakt zum nationalen Unabhängigkeitskrieg gegen die napoleonische Fremdherrschaft gegeben hatte. Stauffenberg war ein Ururenkel des Militärreformers Gneisenau und beschäftigte sich intensiv mit dessen Schriften. Trott verehrte den Reichsfreiherrn vom und zum Stein, ein Hessen-Nassauer, dessen Bild in seinem Arbeitszimmer hing. Auch Stauffenberg interessierte sich für die Steinschen Reformen. Schulenburg war, wie seine Schwester berichtete, »von der sittlichen Idee des preußischen Beamtentums überzeugt... Sparsamkeit, Sauberkeit, selbstloser Dienst am Staat. Gerade diese Idee wurde, wie er feststellen mußte, von den Bonzen verraten.« Sicher beeinflusste dieses Erlebnis seine Abwendung von der NSDAP, der er seit 1932 angehört hatte. Generalmajor Helmuth Stieff schrieb nach einer Reise durch das besetzte Polen im November 1939 in einem Brief: »Ich schäme mich, ein Deutscher zu sein! Diese Minderheit, die durch Morden, Plündern und Sengen den deutschen Namen besudelt, wird das Unglück des ganzen deutschen Volkes werden, wenn wir ihnen nicht bald das Handwerk legen.« Als Tresckow 1941 Kenntnis von Hitlers »Kommissarbefehl« erhielt, der die Erschießung kriegsgefangener Kommissare der Roten Armee anordnete, forderte er von Generalfeldmarschall Walther von Brauchitsch, dem Oberbefehlshaber des Heeres, dessen sofortige Rücknahme. Tresckow sah darin eine Verletzung seiner Offiziersehre und erklärte: »Wenn es uns nicht gelingt, den Feldmarschall dazu zu bewegen, alles, auch seine Person, einzusetzen, daß diese Befehle zurückgenommen werden, dann hat Deutschland endgültig seine Ehre verloren, und das wird sich in Hunderten von Jahren noch auswirken.« Es gab also durchaus einige, die sich noch eine Art Offiziersehre erhalten hatten. Doch was war daran preußisch? Es waren allgemeine Postulate menschlicher Anständigkeit. Allerdings: »Unglück« und »verlorene Ehre« wären schon mit dem Einsetzen des faschistischen Terrors und der Judenverfolgungen sowie mit dem Überfall auf andere Völker zu beklagen gewesen. Diese Erkenntnis reifte sehr langsam, der »Tag von Potsdam« und seine Folgen waren nicht rückgängig zu machen. »Die Geschichte weigert sich zuzulassen, daß eine versäumte Gelegenheit nachgeholt wird - eine Erfahrung, die dann auch von den Männern des 20. Juli 1944 von neuem gemacht wurde«, schrieb 1946 der bürgerliche Publizist Erik Reger in seiner Zeitung »Tagesspiegel«, als er unter der Überschrift »Der andere 20. Juli« auf die innere Verbindung zwischen der Kapitulation der preußischen Braun-Severing-Regierung am 20. Juli 1932 und dem 20. Juli 1944 aufmerksam machte. Unschärfe des Begriffes, Begrenztheit des Denkens sowie unterschiedliche Motivation und Interessenlage der konservativ-aristokratischen Nazigegner lassen es nicht zu, von einem Aufstand des »preußischen Geistes« zu sprechen. Im Gegenteil: »Preußengeist« hemmte den konsequenten Kampf. So hatten die meisten Militärs grundsätzliche Vorbehalte gegen solche Arten des Widerstandes wie Rüstungssabotage, Kundschaftertätigkeit und Zusammenarbeit mit dem »Feind«. Während die Kommunisten für die Niederlage und den Sturz des faschistischen Regimes kämpften, fürchteten die konservativen Offiziere »Landesverrat« und »Eidbruch«. Ein Staatsstreich sollte die totale Niederlage abwenden und auch ein konservatives Deutschland ohne Hitler und Himmler noch militärisch stark und verhandlungsfähig erhalten. Diese Einstellung beeinträchtigte wesentlich den Kampf für die Schwächung der terroristischen faschistischen Kriegsmaschine. Übrigens wurde trotz allem auch einigen der Oppositionellen klar, dass Preußen sich historisch überlebt hatte. War es Ironie der Geschichte, dass gerade die »Urpreußen« Moltke und Goerdeler für die Z...

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