Berlin: auch Provinz, aber anders

Max Frisch in Berlins Akademie der Künste

  • Lesedauer: 6 Min.

Anfang der siebziger Jahre wurde es ihm in der Schweiz zu stickig. Er brauchte Luftveränderung. Kurz entschlossen kaufte er in Westberlin eine Wohnung und zog im Februar 1973 mit Ehefrau Marianne ins idyllische Friedenau. Max Frisch mochte die Stadt, seit er sie 1935 zum ersten Mal gesehen hatte, er war nach dem Krieg oft wiedergekommen, 1959 hatte man ihn sogar zum Mitglied der Akademie der Künste im Westteil gewählt, und vor allem: In der Nähe wohnten Günter Grass, Uwe Johnson, Hans Magnus Enzensberger und Christoph Meckel. Hier, in der Nachbarschaft der Kollegen, war er bestens aufgehoben. In seiner Ehe kriselte es schon. »Wahrscheinlich«, schrieb er, »ist Berlin auch Provinz, aber anders.« Doch genauso stand für ihn fest: »Man ist wacher als anderswo.«

Frisch blieb ein paar Jahre, war freilich oft unterwegs. Die Sommer verbrachte er ohnehin in seinem Haus im Schweizer Onsernonetal. Einmal, 1974, flog er nach New York, wo er viel herumgereicht wurde, betreut von einer jungen Amerikanerin, mit der er dann ein Mai-Wochenende auf Long Island verbrachte. Wieder eine neue Liebe. In seinem Buch »Montauk« hat er sie erzählt. Er schrieb wie im Rausch, ohne Mühen wie schon lange nicht mehr. Als er fertig war, drückte er das Manuskript seiner Frau in die Hand, verschwand und ließ sie, die Ahnungslose, mit der Geschichte seines Seitensprungs allein. Noch nie hatte er so unverstellt, so offen von sich selber erzählt wie diesmal, und er wollte, dass das Buch veröffentlicht würde. Unbedingt. Marianne Frisch hat nur durchsetzen können, dass er sich von einigen Bemerkungen über Ingeborg Bachmann trennte.

Eine andere Niederschrift, ein Tagebuch, sein »Berliner Journal«, hat Frisch ihr nicht gezeigt. Das durfte nur einer lesen: Uwe Johnson. Es habe viel mit seiner Ehe zu tun, erklärte der Autor in einem Interview, darum könne er es nicht vorlegen. Das Journal wurde versiegelt und lag bis vor kurzem, gesperrt für zwanzig Jahre nach seinem Tod, im Tresor einer Schweizer Bank. In den Akademieräumen am Berliner Hanseatenweg kann man jetzt zum ersten Mal in den sonst unzugänglichen Aufzeichnungen lesen.

Die 29 Blätter, ausgebreitet in einer langen Vitrine, krönen die Ausstellung »100 Jahre Max Frisch«. Sie war 2011 im Züricher Museum Strauhof zu sehen und ist für ihr Gastspiel mit einem Berlin-Teil ergänzt worden. Sie ist ohnehin anders als andere Expositionen, bestückt vor allem mit großen und kleinen Monitoren, siebzig medialen Stationen insgesamt, die Max Frisch im Urteil der Leser vorführen. An der Längswand der Ausstellungshalle, Bildschirm an Bildschirm, kann man sie sehen und hören, einen großen, vielstimmigen Chor. Die Rede ist von Stücken, von Romanen, den Tagebüchern. Ansichten über Frisch auch im materialreichen Begleitbuch. Der New Yorker Professor: »Für mich war Max Frisch das Ideal eines kritischen Bürgers und Zeitgenossen.« Ein junger Erzieher: »Max Frisch? Sagt mir jetzt eigentlich gar nix - aber geiler Name.« Jemand vermisst die ästhetische Gewagtheit in den Texten. Ein Züricher Bademeister berichtet, dass man ihm während seiner Rekrutenzeit die Lektüre der »Blätter aus dem Brotsack«, dieses kritischen Berichts über Frischs Militärjahre, verbot und das Büchlein konfiszierte. Eine Studentin liebt besonders die Fragenkataloge in den Tagebüchern, weil sie Grundprobleme der Existenz berühren. Ein Schüler, der sich offenbar mit «Homo Faber« abplagte, hat von Frisch genug. Bei Günther Jauch gewinnt ein junger Mann die Million, weil er weiß, wer in Zürich das Schwimmbad am Letzigraben baute: Max Frisch.

Da wird kein ferner, herausgeputzter Klassiker präsentiert. Diese Schau, sagt Kuratorin Annemarie Hürlimann, will zeigen, wie viel Frisch in der Gegenwart steckt. Man hat von einer biografischen Darstellung deshalb auch abgesehen. Die Fotos, Typoskripte, Briefe und Bücher sind unter Stichworten gebündelt. Sie lauten: »Diese Option, Sätze zu tippen«, »Ich bin gern Schweizer, aber«, »Bei Frauen bin ich mir nie sicher«, »Leben gefällt mir«, »Wandern hilft« oder »Probieren ist herrlich«. Dazu gibt es reichlich Anschauungsmaterial: Sätze, die auf Monitoren laufen, die Skizze des Architekten Frisch für ein kleines Landhaus, Brechts Brief vom Juli 1948, Ansichtskarten an die Mutter, Brillen, Tabakspfeifen, die dunkelblauen Bände der von Hans Mayer 1976 edierten Werkausgabe, Frisch auf sommerlicher Tour durch die Schweizer Bergwelt, eine Liste des Suhrkamp-Verlages mit der Aufstellung verkaufter Bücher, die langwierige Arbeit an der Erzählung »Der Mensch erscheint im Holozän«, ablesbar an acht nebeneinander gelegten Seiten mit dem Anfang des Textes, immer wieder geändert und variiert.

Sorgfältig auf der Maschine getippt auch das »Berliner Journal«, kein »Sudelheft«, wie Frisch sagt, »sondern ein durchgeschriebenes Buch, auch die privaten Sachen sind ins Reine geschrieben, ausformuliert, nicht einfach Notizen«. Im Oktober 1980, als er in einem Brief Uwe Johnson bat, die einzige Kopie mit den Aufzeichnungen der ersten Jahre an sich zu nehmen, sie aber nirgendwo zu zeigen oder darüber zu sprechen, meinte er, es stünde »viel Krudes« darin, viel Selbstgerechtes, zum Ende hin werde nur über Marianne gesprochen (von der er 1979 geschieden wurde). Die Seiten, die in der Ausstellung zu sehen sind, stammen aus der ersten Zeit des Berlin-Aufenthalts, Februar 1973 bis Februar 1974.

Max Frisch, ungeheuer neugierig, was jenseits der Mauer passiert, sieht sich um. Im DDR-Fernsehen verfolgt er eine Debatte, die nach der Gültigkeit des »Kommunistischen Manifests« fragt. Er findet sie »schauerlich«, eine »Litanei der verbalen Selbstbestätigung«. Auf der Buchmesse in Leipzig lernt er Wolf Biermann kennen und vertieft sich hinterher in dessen Liedtexte. Mitte April 1973, fünf Jahre nach ihrer Begegnung auf einem Wolga-Dampfer, sitzt er mit Christa und Gerhard Wolf im Opern-Café. Sie reden über die DDR, die Selbstmordrate, über Huchel, Johnson, die Kenntnis verbotener Bücher. Mit Uwe Johnson fährt er nach Steinstücken. In Berlin-Buch besucht er Günter Kunert. Zwischendurch eine Notiz über die Watergate-Affäre und die »Verhunzung der Demokratie«. Im Verlag Volk und Welt wird über ein Nachwort gestritten, das die Auswahl seiner Tagebücher begleiten soll (vollständig sind sie in der DDR nicht erschienen).

Am längsten verweilt Frisch bei seiner Lesung in der Akademie der Künste, veranstaltet vom Schriftstellerverband der DDR. Er spürt viel Aufmerksamkeit und bekommt einen Strauß Rosen. Hinterher ein Treffen im kleinen Kreis. Er vermisst Hermlin, Strittmatter und Kant. Der einzige Literat in der Runde, dem er Gewicht attestiert, ist Volker Braun. Das Gespräch seltsam mild. Keine Kritik am Westen, stattdessen »Hackepeter-Gemütlichkeit«. »Alles in allem«, bilanziert Frisch, »fast eine Art von Schwarzhandel, was wir treiben; ich liefere Meinungen feil, ohne die offizielle Terminologie in Kauf zu nehmen, und sie können es sich anhören, ohne sich als DDR-Bürger etwas zu vergeben.«

Dass man sich in die 29 Seiten vertiefen kann, ist eine Gelegenheit, die es vielleicht nur dieses eine Mal gibt. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen, so hat der Stiftungsrat der Max-Frisch-Stiftung nach der Lektüre des Typoskripts vor Monaten entschieden, soll das »Berliner Journal«, das in mehreren Ringheften vorliegt, komplett nicht publiziert werden. Im Augenblick wird geprüft, ob man einzelne Teile herauslösen und im Buch vorstellen kann. Die Entscheidung soll noch in diesem Jahr fallen.

100 Jahre Max Frisch - Eine Ausstellung. Bis 11. März in der Akademie der Künste, Hanseatenweg 10, 10557 Berlin, dienstags bis sonntags 11 bis 20 Uhr. Begleitbuch 14 €.

Max Frisch (New York, 1981) Foto: F. Kappeler/ Fotostiftung Schweiz
Max Frisch (New York, 1981) Foto: F. Kappeler/ Fotostiftung Schweiz

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