Wenn Mama noch nie im Museum war

Zuwandererfamilien nutzen Bildungsangebote oftmals kaum - eine Stiftung in Frankfurt am Main will die Hemmschwelle senken

  • Ira Schaible, dpa
  • Lesedauer: 5 Min.
Damit Kinder in der Schule erfolgreich sind, müssen ihre Familien mitziehen. Eine Frankfurter Stiftung hat daher ein Bildungsstipendium für die ganze Familie ins Leben gerufen - das erste in Deutschland. Auch andere Städte zeigen Interesse, Hannover ist schon eingestiegen.

Frankfurt am Main. Onur will wissen, wie viele Knochen der Tyrannosaurus Rex hat, und wie viele der Langhals-Dinosaurier. Der pfiffige Elfjährige erforscht mit Gleichaltrigen Wirbeltiere im Frankfurter Senckenbergmuseum. Seine Mutter lernt unterdessen gemeinsam mit anderen Eltern einiges über Schlangen - und Onurs jüngere Geschwister etwas über Tierfüße. Nur der Vater der türkischstämmigen Familie ist beim Akademietag des Diesterweg-Stipendiums zum Thema »Natur - Wissenschaften« nicht dabei, der Lastwagenfahrer muss arbeiten.

Das Bildungsstipendium der Frankfurter Stiftung Polytechnische Gesellschaft fördert die ganze Familie eines Grundschülers beim Übergang in die weiterführende Schule - insgesamt zwei Jahre lang. Ziel ist es, den Jungen und Mädchen aus sozial schwächer gestellten Familien einen höheren, ihren guten Fähigkeiten und Schulleistungen entsprechenden Bildungsabschluss zu ermöglichen.

Wichtige Impulse

Damit ist die Stiftung seit 2008 Vorreiter in Deutschland. Hannover hat das Programm im September 2011 übernommen und unter Regie der AWO-Bürgerstiftung Soziale Zukunft leicht abgewandelt. Andere Städte stehen schon bereit: Hamburg und Darmstadt könnten im Sommer 2012 folgen.

Am Anfang stand der Hilferuf einer Frankfurter Grundschulleiterin aus einem Stadtteil mit besonders hohem Migrantenanteil, wie Roland Kaehlbrandt, Vorstandsvorsitzender der Frankfurter Stiftung und Initiator des Programms, erzählt. Die Lehrerin habe davor gewarnt, dass sich viele Zuwandererfamilien aus dem öffentlichen Raum und dem Schulleben zurückzögen und damit auch die besten Förderprogramme für ihre Kinder ins Leere liefen. Die Bedeutung der Familie für den Bildungserfolg in Deutschland bestätigen auch viele wissenschaftliche Studien.

»Um die Kraft der ganzen Familie zu nutzen«, riefen die Polytechniker das Stipendium ins Leben, mit Unterstützung der hessischen Landesregierung und der Stadt Frankfurt. Mit dem Diesterweg-Stipendium, benannt nach dem Pädagogen Adolph Diesterweg (1790-1866), werden inzwischen in zweiter Generation also nicht bloß begabte Schüler aus schwierigem sozialen Umfeld und mit Sprachdefiziten unterstützt. Auch ihre Eltern und Geschwister werden gefördert - im gewissen Umfang sogar Onkel, Tanten, Cousinen und Nachbarn.

So hat eine türkische Familie zwei Verwandte mit ins Frankfurter Senckenbergmuseum gebracht. Projektleiterin Gisela von Auer heißt alle willkommen. Viele Mütter und Väter sind zum ersten Mal überhaupt im Museum. »Die Familien müssen die Themen erleben, Impulse bekommen, darüber sprechen können. Nur Vorträge - da bleibt nichts hängen«, betont von Auer. »Es gibt so viele gute Ansätze«, sagt sie mit Blick auf Stadtteilbibliotheken, Volkshochschulen, Museen und Familienbildungsstätten. »Man muss sie aber an den Mann bringen und Schwellenängste abbauen.«

»Ich bin selbstbewusster«

Die Stiftung schlägt eine Brücke von den Familien zu den Bildungsangeboten. »Von dem Moment an geht es dann von selber«, sagt Kaehlbrandt. »Von Bildungsferne ist, was die Motivation betrifft, dann nicht mehr viel zu spüren.« Über Flyer, Internetadressen und Hotlines gelinge das einfach nicht. »Der Weg zur Bildung braucht Begleitung.« Manche Familie müsse auch erst lernen, dass sie zwei Wochen vor einer Klassenarbeit mal das Fernsehgerät aus dem Wohnzimmer räumen sollte, damit das Kind in Ruhe lernen kann.

Der Akademietag im Senckenberg ist einer von sechs bis acht pro Stipendiaten-Generation. Dazu kommen Ausflüge. Jedes Kind schöpft auch aus einem Bildungsfonds von bis zu 600 Euro pro Jahr. Von dem Geld werden Laptops mit Lernprogrammen, Bücher, Nachschlagewerke und Nachhilfe bezahlt. In Ferienkursen werden gezielt die deutsche Sprache der Kinder aus den zugewanderten Familien gefördert und Lernstrategien vermittelt. Für die Eltern gibt es Treffs zu aktuellen Fragen rund um Schule, Erziehung und gesellschaftliches Engagement. Gespräche mit Lehrern werden trainiert, auf Wunsch werden Eltern auch zu den Sprechstunden ihrer Kinder in der Schule begleitet. Ausgewählt werden die Stipendiaten in Zusammenarbeit mit den Schulen.

Projektleiterin von Auer freut sich, »dass wir auch die Väter im Boot haben. Sie wollen auch gute Bildung für ihre Kinder, sind aber in vielen Familien bei der Erziehung nicht in erster Linie zuständig.« Die warmherzige Frau kennt ihre Teilnehmer - und auch deren Probleme; Hausbesuche gehören dazu.

Fast alle stammen aus Zuwandererfamilien, insgesamt aus 16 Nationen. Viele Männer haben Jobs als Fahrer oder am Flughafen, viele Eltern arbeiten als Reinigungskräfte. Einige haben traumatische Erfahrungen in ihrer Heimat gemacht, andere warten viele Jahre darauf, dass ihr Ehepartner einreisen darf. 51 Familien mit 54 Kindern haben in Frankfurt bislang das Stipendium nutzen können, in Hannover sind es 11 Familien.

Eine alleinerziehende Mutter aus Rumänien lobt: »Ich bekomme richtige Informationen, was ich brauche, und werde bei Problemen direkt zur Lösung geführt.« Und: »Wir fühlen uns unterstützt und bekommen mehr Mut«, sagt die gelernte Lehrerin, deren Diplom in Deutschland nur für ein Fach anerkannt wird. Die 35-Jährige lebt seit 2006 in Frankfurt. »Viele Plätze kannte ich aber gar nicht«, erzählt sie von den Ausflügen.

Ihre Tochter Leonia, der die deutsche Grammatik manchmal noch schwerfällt, sagt: »Immer in den Ferien haben wir Kurse, und dann lerne ich halt weiter, und es wird immer leichter für mich.« Stolz fügt die Zehnjährige hinzu: »Jetzt bin ich in der Schule selbstbewusster.« Sie freut sich auch über den Kontakt zu Gleichaltrigen. »Wir sind irgendwie alle auf der gleichen Stufe.«

Effekte auch für Eltern

Der Vorstand der Stiftung Soziale Zukunft in Hannover, Dirk von der Osten, empfiehlt das Stipendium auch anderen Städten. Die Teilnehmer seien begeistert, weil die ganze Familie mitmachen könne. Allerdings sei es nicht so einfach gewesen, genügend finanzkräftige Unterstützer zu finden. Er rechnet mit rund 80 000 Euro für die zwei Jahre. Die Grundschulen seien am Anfang auch schwer zu gewinnen gewesen, »weil gute Schüler gefördert werden und nicht die, die es noch schwerer haben«.

Von den bislang 54 Frankfurter Stipendiaten-Kindern wechselten 37 auf ein Gymnasium, 11 auf eine Integrierte Gesamtschule und 9 auf eine Realschule. In der ersten Runde wurden alle am Ende der 5. Klasse versetzt, und alle konnten auf der gewählten Schule bleiben, wie von Auer sagt. Die zweite Gruppe ist noch mittendrin.

Das Europäische Forum für Migrationsstudien der Universität Bamberg hat die Erfahrungen der ersten Stipendiaten-Generation wissenschaftlich untersucht und bewertet das Stipendium als Erfolg. Es unterstütze die Kinder beim Wechsel auf die weiterführende Schule. Die Schüler würden selbstbewusster, selbstständiger und verbesserten ihre Deutschkenntnisse. Ein weiterer positiver Effekt: Die Eltern könnten ihre Kinder besser beim Lernen begleiten, unternähmen mehr mit ihnen und engagierten sich stärker in der Schule.

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