Kälte, dass es einen schaudert

»Nichts. Was im Leben wichtig ist« - ein erschütterndes Stück im Theater an der Parkaue

  • Lucía Tirado
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine grausame Geschichte wird aus kleinstädtischer Langeweile und pubertärer Hilflosigkeit geboren. Die Es-hat-doch-sowieso-alles-keinen-Sinn-Haltung des Mitschülers Pierre-Anthon, der allem, was ihn umgibt, Bedeutung abspricht und die Schule am ersten Tag nach den Ferien verlässt, bringt den Stein in der fiktiven dänischen Kleinstadt Tæring ins Rollen. Keiner hätte ihm bisher erklären können, was von Bedeutung sei, sagt der Junge. Die angelehnte Klassenzimmertür hätte bei seinem Weggang gelächelt, nein gegrinst, registrierte er für sich.

Scheinbar ziemlich bedeutungslos diese Trotzaktion. Doch steigt seine siebente Klasse auf die Sache ein, will ihm das Gegenteil beweisen und manövriert sich in eine Falle. Sich seiner Macht bewusst, stellt Pierre-Anthon auf dem Pflaumenbaum hockend immer neue Thesen auf. Er spielt und spottet, vergiftet - sich der Folgen bewusst oder nicht - die Atmosphäre. Was zählt ist, dass es Verhängnisvolles auslöst.

Mut ist von Bedeutung, bewies Janne Teller mit ihrem Roman »Nichts«. Im Jahr 2000 erschien er in Dänemark, wird bis heute dort viel diskutiert, auch wenn die 1964 in Kopenhagen geborene Autorin 2001 dafür den Jugendbuchpreis des dänischen Kulturministeriums erhielt. Zeitweise war das Buch an den dänischen Schulen sogar verboten.

Janne Teller hat die Gesellschaft aufgeschreckt. Aber das Buch nahm seinen Weg, wurde in zwölf Sprachen übersetzt. Die Welt veränderte sich rasant gerade in dieser Zeit. Die inzwischen härtere Realität macht vor Jugendlichen nicht Halt. Erst 2010 erschien der Roman in Deutschland. In der Bühnenfassung von Andreas Erdmann nach der Übersetzung von Sigrid C. Engler kam nun »Nichts. Was im Leben wichtig ist.« an der Parkaue für Jugendliche ab 14 Jahren ins Theater.

Mit kühler Distanz berichten bei der ersten Regiearbeit von Roscha Säidow am Jungen Staatstheater Berlin die Schüler locker vom Lauf der Dinge im stillgelegten Sägewerk ihres Ortes. Dort hatten sie einen »Berg aus Bedeutung« errichtet. Harmlos mit Lieblingskassetten und Sandalen beginnend, werden schließlich Tiere geopfert, ein Sarg mit einen kleinen Bruder auf den Berg gehievt, einem Mitschüler ein Finger abgehackt...

Was dem Einzelnen wichtig ist, soll er hergeben. Erschreckend schnell schlittern Claudia Fritzsche, Franziska Krol, Johannes Hendrik Langer, Paul Maresch, Corinna Mühle, Denis Pöpping als brav gekleidete Schüler (Kostüme: Katja Schmidt) über alle Grenzen, die ein Mensch nicht ohne Schaden überschreitet. Was im Klassenzimmer beginnt, wird mit dem gut gemachten Bühnenbild von Paul Faltz rasant zum Tatort.

Stark, wie die Regie das auf 75 Minuten bringt. Bei den grausigsten Fakten vertraut Säidow aber der Stärke der Sprache nicht, setzt auf Effekte. Ausgezeichnet herausgearbeitet ist das Resultat der Ereignisse in diesem Thriller. Die oberflächlichen Reaktionen hintergründig wahrnehmbaren Erwachsenenwelt gebären Monster. Ein Todesfall bleibt nicht aus. Gefühllos berichten die Schüler am Ende von der Beerdigung, als hätten sie mit Pierre-Anthons Sterben nichts zu tun. Einige haben geweint, weil es so schön war.

Sie sind einfach so davongekommen und haben alles verloren. Nichts ist am Ende für sie noch von Bedeutung. Nichts, was am Leben wichtig ist. Und schon gar kein Berg aus Bedeutung. Nur ein Scherbenhaufen. Was bleibt, ist so viel Kälte, dass es einen schaudert.

Uns bleibt ein engagiert gespieltes, erschütterndes Stück, das wie das Buch brisanten Diskussionsstoff liefert. Nach der Premiere nahmen junge Zuschauer das Wort Bedeutung mit hinaus und spielten mit ihm. Guter Ansatz zum Reden.

20., 25., 27.-29.2., Theater an der Parkaue, Parkaue 29, Lichtenberg, Tel.: 557 75 20, www.parkaue.de

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