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Fenstersturz

KALENDERBLATT

  • Lorenz Zimmermann
  • Lesedauer: 2 Min.

In Prag steht am Fuß des Wenzelsplatzes die Kirche der unbefleckten Jungfrau Maria. Auf Tschechisch heißt sie Panny Marie Sněžky und symbolisiert die Reinheit frisch gefallenen Schnees. Dort predigte der hussitische Geistliche Jan Želivský die Reinheit des Wortes Gottes. Die sah er von der katholischen Kirche beschmutzt. Dem Herrn allein wollte Želivský dienen, nicht kirchlichen Instanzen, die sich zwischen Gott und sein Volk geschoben hatten: »Für nichts achten müssen wir die verlogenen Anordnungen der Menschen: der Päpste, der Kardinäle, der verräterischen Magister. Ein wahrer Christ ist arm, demütig, geduldig, wahrhaftig, einfach, aufrichtig und rein.«

In seinen Predigten kritisierte Želivský ebenfalls die Unterdrückung seiner von Jan Hus gegründeten Glaubensgemeinschaft. Am 30. Juli 1419 endete Želivskýs Predigt anders als gewöhnlich. Von seiner Kirche aus führte er seine Anhänger zum Neustädter Rathaus, um die Freilassung aller verhafteten Hussiten zu verlangen. Die Ratsherren sahen aus den oberen Stockwerken zu, lachten die Protestierenden aus und warfen Gegenstände auf sie herab. Daraufhin brach die Menge das Tor auf und rannte die Treppen hoch. Im Handgemenge wurden ein Dutzend Ratsherren und -diener durch die Fenster aufs Pflaster gestoßen. Wer nicht durch den Fall starb, landete auf den eisernen Spitzen der Spieße, die von den Untenstehenden emporgereckt wurden. Noch am selben Tag wurden im gestürmten Rathaus unter Želivskýs Leitung neue Ratsherren gewählt und auch sofort eingesetzt. Zu den Opfern des ersten Prager Fenstersturzes kam bald ein weiteres hinzu, als Wenzel IV. von dem Aufruhr erfuhr. Einer seiner Berater warf dem König vor, der Tod der Ratsherren sei Folge seiner rücksichtslosen Hussitenpolitik. Mit gezücktem Dolch stürzte sich der rasende Monarch auf den vorlauten Beamten - und erlitt einen Schlaganfall, dem zwei Wochen später ein zweiter, tödlicher, folgte.

Gewaltsam war auch Želivskýs Ende. Er geriet in die Hände habsburgischer Truppen als er die hussitische Revolution nach Nordböhmen führen wollte. Dem Prediger wurde ein kurzer Prozess bereitet, gerade auch wegen der blutigen Revolte in Prag. Mit dem Schwert hatte Želivský versucht, sein Volk der römischen Kirche und der weltlichen Macht der Habsburger zu entwinden. Hingerichtet durchs Schwert verlor er sein Leben, vor 590 Jahren, am 9. März 1422.

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