Sterben - oder Ratte werden

Cottbus: »Der Fall des Hauses Usher«

  • Irene Constantin
  • Lesedauer: 4 Min.

Heinrich Bölls Dr. Murke nimmt sein Angstfrühstück im Paternoster ein. Ältere Menschen kennen noch Kohlenkeller ohne elektrisches Licht, wieder anderen grummelt es auf einem Aussichtsturm im Magen - scheußlich, diese Situationen, aber man muss sie haben wie ein Suchtmittel oder eben die tägliche Frühmahlzeit.

Der Theatermacher, Choreograf, Performer Jo Fabian hat mit seiner ersten Opern-Inszenierung eine Laborsituation zum Thema geschaffen. Bis zum Schluss bleibt unentscheidbar, ob man im Zuschauerraum der Cottbuser Kammerbühne am abschüssigen Rand der ureigenen Albtraum-Welt sitzt oder in sicherer Gesellschaft vor einer spektakulären Grusel-Jahrmarktsbude und Geisterbahn. Die schaudernde Lust am Gespenstischen ankert gerade dort, wo so fantastische Produkte wie Kunstblut, Styropor und Bühnennebel, gern auch Glasaugen, mechanisches Werkzeug oder gar der deutsche Wald, die realen Schreckensträume der Seele in ihren sorgsam gewählten Verstecken aufspüren.

E. T. A. Hofmann und Carl Maria von Weber kannten den Platz, an dem heimliche Nachtmahre mittels der Kunst ans Licht gezwungen werden, genau so gut wie Edgar Allan Poe. Zu Poes Nachtmahren gehörten so schöne Themen wie auszehrende Krankheiten, Opiumrausch, Inzest, Scheintod. In seiner Kurzgeschichte »Der Fall des Hauses Usher«, »The Fall of the House of Usher«, erhob er sie zur Literatur. Die Geschichte ist ein Menetekel: Eine menschliche Kulturtat - das Haus und die Lebensweise des uralten Geschlechts der Usher - verquickt sich mit der Fäulnis feucht wuchernder Natur in Park und Teich, schließlich wird alles von der Natur verschlungen.

Hier setzt Jo Fabians Interpretation an. Philip Glass dagegen, dessen 1988 uraufgeführte Usher-Oper in Cottbus zu sehen ist, illuminiert mit seiner rauschhaften Endlosschleifen-Musik weniger den Untergang und Fall des Hauses Usher als vielmehr das stillstehende Siechtum bis dahin. Am Ende hört die Musik einfach auf. Das Werk mit seinem soghaften, unter Marc Niemann wahrlich berauschend gespieltem Instrumental-Sound, mit seinen Sirenen-Sopran-Vokalisen und tenoralen Verführungskantilenen, seinen undurchsichtigen, fast unbestimmten Protagonisten kann keinerlei Opernrealismus vertragen. Jo Fabians Bilderwelt und Bewegungskanon zwischen Tanz und surrealer Filmchoreografie musste her, um sich mit Glass’ Musik innig vermischen zu können. Außerdem brachte Fabian das Wunder zustande, zwischen Wahnsinn und Untergang eine vielfarbige Konterbande einzuschleusen, Komik.

Das eigentliche Haus der Usher baute Pascale Arndtz. Fantasievoll schuf sie die rissigen Mauern eines schottischen Castles in eine matrix-artige Gitterstellage um. In diesen Käfigen versammeln sich die Aus-Geburten der Schlossbewohner: rattennasige geschwänzte Föten in Formalin-Gläsern. Dort wohnen auch die letzten degenerierten Mitglieder des Adelshauses der Usher, Roderick und seine Schwester Madeline, deren einsamer Inzest die geschwänzten Wesen hervorbrachte. Weitere Schloss-Käfig-Bewohner sind Doktor, Diener und der Besucher William, Rodericks Jugendfreund. In zwei dieser Käfige liegen Kinder, angeschlossen an Schläuche und Leitungen. Unerkennbar, ob ihnen ihr Lebenssaft abgezapft wird, um Roderick und Madeline am Leben zu erhalten, oder ob es Rück-Projektionen der beiden sind, wie sie als Kinder mit fremdem Blut am Leben erhalten wurden, mit vitalem Blut, Rattenblut.

Jedenfalls lässt Jo Fabian am Ende die Ratten als Naturwesen, als Menschenderivate auf niedrigster Stufe das Schloss erobern. Aus den Kindern werden kapitale Exemplare der Nager. In die Gitterkäfige kommen Usher und William, angekettet von dem gespenstischen Doktor. Der dämonisch grinsende, blutbeschmierte Frankenstein schwingt sich zum Usurpator auf, um doch am Herzinfarkt durch Schreck vor wimmelnden Ratten zu sterben. Madeline, das liebliche Opfer seiner blutigen Künste, ertrinkt, unablässig singend, in einem überdimensionalen Formalinglas.

Roderick Usher, anfangs ein verwachsener Gnom und mit verkrümmten Armen und herausgestreckter Zunge einem exotischen Götzenbild ähnlicher als einem Menschen, war eine Glanzpartie für den Tenor Matthias Bleidorn. Erstaunlich und wunderbar, wie sich dieser Sänger in eine solche Un-Gestalt hineinbegab, die am Ende immer rattiger und kräftiger wird, jeden Rest von Leben an sich saugt, auch die Stimme wachsen lässt. Der aus der Ferne kommende William, halb Priester mit Rosenkranz, halb langbemäntelte Gestalt aus »Matrix«, wird seiner Energien beraubt, wird schorfiger, verschwollener und scheint es nicht einmal zu bemerken. Die Energieübertragung geht als eine Art Tanz vonstatten. Gemäß Glass’ unendlichen melodischen Wiederholungen bewegen sich die Sänger in steter Wiederholung der Armbewegungen in immergleichen Schrittfolgen über die Bühne.

Auf halbem Wege steigen William und Roderick mal kurz aus dem katagrafischen Unter-Gang aus. Eine Zigarrenpause - holst du mal den Ascher - muss möglich sein.

Sterben oder Ratte werden ist am Ende für alle die Alternative. Die Ratten werden überleben, zäh die Reste des untergegangenen Hauses Usher nutzend. Der von Anfang an rattengesichtige Diener wird ihre Gesellschaft sein. Er hackt auf eine altmodische Schreibmaschine ein. Heraus fließt die Geschichte vom Untergang des Hauses Usher.

Nächste Vorstellungen: 18. und 31. Mai sowie 3. Juni

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