Mindestens noch 4,5 Milliarden Jahre

Die Sonne - der Stern, um den sich alles dreht

  • Dieter B. Herrmann
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Sonne tönt nach alter Weise in Brudersphären Wettgesang ...«, lesen wir schon in Goethes »Prolog im Himmel« (Faust). Der mystisch klingende Text des Altmeisters wird neuerdings durch die moderne Wissenschaft bestätigt. Die Sonne führt tatsächlich akustische Schwingungen aus, wie die moderne Astrophysik herausgefunden hat. Fast scheint es, als hätten Künstler bereits vor langem erahnt, was Wissenschaftler erst viel später mühsam herausfanden.

Jedenfalls ist die Sonne keineswegs nur ein Thema der wissenschaftlichen Forschung. Darüber belehrt uns jetzt ein bestens recherchiertes, voluminöses Buch über den »Stern, um den sich alles dreht«. Sein Autor ist kein Astronom, sondern der mehrfache britische Fechtmeister und Olympiateilnehmer Richard Cohen. Ihm ging es offenbar wie allen Menschen, gleich welcher Hautfarbe, Bildung oder welchen Geschlechts - er fand die Sonne einfach faszinierend. Schließlich ist sie der einzige Stern, den wir täglich wahrnehmen, dessen Verschwinden hinter den Wolken die Meisten bedauern und dessen Wärme sie alle lieben.

Deshalb gibt es wohl auch mindestens so viele Lieder, Gedichte, Gemälde und Sinfonien über die Sonne, wie wissenschaftliche Abhandlungen. Sergej Prokofiew, der berühmte russische Komponist, hatte sich eigens ein sonnengelbes Notizbuch angeschafft, in das seine Bekannten ihre Antwort auf die Frage eintragen sollten »Was halten Sie von der Sonne?«. Stravinsky mokierte sich prompt darüber, dass die Sonne in der deutschen Sprache weiblichen Geschlechts sei.

Cohen bereiste in sechs Jahren mehr als zwanzig Länder, um seinem Protagonisten und dessen Rolle in der Weltkultur und Forschung näher zu kommen. Dass die Sonne so feste Wurzeln in der menschlichen Kulturgeschichte geschlagen hat, ergibt sich offenbar daraus, dass man nichts über sie wissen muss, um ihre Bedeutung für das Leben auf der Erde zu erspüren. Und weil die Menschen bereits in einer fernen Vergangenheit ihre Abhängigkeit von der Sonne erfuhren, verehrten sie das Licht und Wärme spendende Gestirn als eine Gottheit. Doch zugleich kam die Vernunft ins Spiel: Vielleicht konnte man den Willen der Götter in Erfahrung bringen, indem man die Sonne sorgfältig beobachtete? So beflügelten sich Sonnenreligion und die einfachsten Anfänge der Sonnenforschung gegenseitig. Letztere widmete sich vor allem der (scheinbaren) Sonnenbewegung, ihrem Aufsteigen und Niedersinken am Himmelszelt im Rhythmus der Jahreszeiten. Das war keine einfache Aufgabe, denn die Bewegung der Sonne vor dem Hintergrund der Sternkulisse verbirgt sich unseren Blicken, da am Tageshimmel keine Sterne zu sehen sind. Ausgeklügelte Beobachtungsmethoden, scharfsinnige Überlegungen und Jahrhunderte waren vonnöten, um den Jahresweg der Sonne durch den Tierkreis zu entdecken.

Doch die besonderen Punkte dieser Bahn - ihre größte oder geringste Höhe und wenn sie vom südlichen Himmel an den nördlichen kletterte und umgekehrt - waren Feste, Etappensiege des Jahres. Entsprechend rauschend wurden diese Termine bei vielen alten Kulturvölkern begangen. Während man der »göttlichen« Sonne religiöse Zeremonien darbot, teilte man gleichzeitig durch diese Riten das Jahr in Perioden der Aussaat, des Wachsens und der Ernte. Die Vergöttlichung der Sonne forderte jedoch alsbald den Zorn jener heraus, die anderen Göttern huldigten. Toleranz - ein unbekannter Begriff für die spanischen Konquistadoren, als sie im 16. Jahrhundert in Südamerika einfielen und ihre brachiale Macht auch durch ihre Ideologie alias Religion zu befestigen suchten. Alle Zeugnisse des Sonnenkults der indigenen Völker, die zugleich Denkmale der Wissenschaft darstellten, wurden brutal zerstört.

Was wir heute als moderne Sonnenforschung bezeichnen, hat erst sehr spät die Bühne der Wissenschaft betreten. Man mag es kaum glauben, aber bis weit ins 20. Jahrhundert hinein vermochten wir nichts Zuverlässiges über die Herkunft der Sonnenenergie auszusagen. Alle Vermutungen scheiterten an der Realität. Selbst wenn die Sonne, wie man zeitweise annahm, aus reinster Steinkohle bestünde, würde sie nur etwa 5000 Jahre strahlen können. Das ist angesichts der geologischen und biologischen Zeitskalen irdischer Prozesse viel zu wenig. Erst mit der Entschlüsselung subatomarer Prozesse gelang es um 1937, die Kernfusion als Quelle der Sonnenenergie auszumachen. Die daraus resultierende beruhigende Erkenntnis: Der »Sonnenofen« wird noch mindestens 4,5 Milliarden Jahre unvermindert weiter brennen.

Gegenwärtig ist die Sonne weltweit nicht nur ein Objekt der Verehrung. Ihre großzügig auf die Erde strömende Energie wird zunehmend genutzt, um den weiter zunehmenden Energiehunger der Menschheit »alternativ« zu stillen. Dabei geht es, wie auch bei der Wind-, Wasser- oder Bioenergie, um die Wandlung von Sonnenergie in für uns nützliche Energieformen wie z. B. elektrischen Strom. Eigentlich nichts Neues, denn schon bei den konventionellen Energieträgern haben wir ausschließlich von der Sonne profitiert. Alle fossilen Energieträger, ob Kohle, Erdöl oder Erdgas, enthalten in Jahrmillionen durch natürliche Prozesse gespeicherte Sonnenenergie. Die Sonne schmerzt das nicht. Selbst jener winzige Bruchteil der Sonnenenergie, der täglich unsere Erde trifft, ist immer noch etwa zehntausend Mal größer als der Weltenergieverbrauch eines ganzen Jahres. Obwohl unsere Vorfahren von alldem nichts wussten, haben sie doch in ihrer kultischen Sonnenverehrung eine Art intuitiver Ahnung davon zum Ausdruck gebracht.

Zum Sommeranfang erleben wir die längsten und hellsten Tage des Jahres. Die Lebensspenderin schwingt sich hoch an den Himmel empor und versetzt uns in euphorische Stimmung. Wen kümmert es da, was die Astrophysiker über tief im Inneren der Sonne ablaufende Prozesse erzählen oder über das in Jahrmilliarden bevor stehende Ende des Lebenssterns? Uns genügt, dass es Sommer ist und dass wir uns einstweilen auf die Sonne und ihren Jahreslauf mit einer Sicherheit verlassen können, von der scheinbar noch so seriöse Propheten des Finanzmarktes nur träumen können.

Übrigens: Die Sonne hat auch einen recht stattlichen familiären Anhang, zu dem nicht nur die acht großen Planeten und deren Monde, sondern auch Millionen kleinerer Objekte wie Asteroiden und Kometen zählen. Denen widmet sich ein anderes gerade erschienenes Buch des bekannten Autors Marcus Chown. Von den sachkundigen Erläuterungen zu den Objekten abgesehen, kann man sich in dem großzügig ausgestatteten Buch vor allem an großformatigen Farbbildern erfreuen, den wohl gegenwärtig besten Aufnahmen unserer facettenreichen näheren kosmischen Nachbarschaft.

Richard Cohen: Die Sonne. Der Stern, um den sich alles dreht. Arche Literatur Verlag, Zürich/Hamburg. 672 S., geb., 49,95 €.
Marcus Chown: Das Sonnensystem. Fackelträger Verlag, Köln. 224 S., geb., 29,95 €.
Prof. Dieter B. Herrman war von 1976 bis 2004 Direktor der Archenhold-Sternwarte in Berlin.

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