Skandal in Groß-Naschhausen

Zum 100.: Inge von Wangenheims »Entgleisung«

  • Werner Liersch
  • Lesedauer: 4 Min.

Inge von Wangenheim war eine strenge Frau, die ihre zweite Lebenshälfte in einem lieblichen Landstrich verlebte. Thüringen. Geboren als Ingeborg Franke in Berlin am 1. Juli 1912, wohnte sie in Rudolstadt, von 1974 an in Weimar. In ihren 81 Lebensjahren - sie starb im April 1993 - war sie Tochter einer Konfektionsarbeiterin, Bühnenelevin, Schauspielerin, Aktrice in einer proletarischen Theatertruppe. Sie erwarb durch Heirat mit Gustav von Wangenheim einen Adelstitel, wurde 1931 KPD-Mitglied, emigrierte 1933 in die Sowjetunion, kam 1945 nach Ostdeutschland zurück und begann ihre literarische Karriere 1950 mit dem Erinnerungsbuch »Mein Haus Vaterland«, in dessen Mittelpunkt: das sowjetische Exil.

Inge von Wangenheim kannte sich aus auf den Brettern, die die Welt bedeuten und auf der Bühne der Zeitgeschichte. Sie und ihr Mann waren 1936 in das düstere Schauspiel der stalinschen »Säuberungen«, hineingezogen worden. Über Gustav von Wangenheim legte sich später der Schatten, er habe an der Verhaftung der Schauspielerin Carola Neher mitgewirkt. Er wäre beinahe selber in dem Strudel versunken. Er kam mit einem Persönlichkeitsbruch davon.

Die ostdeutschen Verhältnisse hielt er später für geeignet, sich von der ungeliebten Titelvergangenheit zu trennen - Ingo Clemens Gustav Adolf Freiherr von Wangenheim -, doch Ulbricht lehnte ab. »Wir brauchen Adlige«, beschied er. Den Versuch, mit den Moskauer Erfahrungen in der DDR ins Reine zu kommen, unternahm er erst gar nicht. Die Frau an seiner Seite war auch Gefährtin dieser bitteren Erfahrungen. Direkt bezeugt hat sie diese nie, selbst als keine unmittelbaren Repressalien mehr drohten. Im Kodex einer alten Kommunistin waren sie als angeblich überwundene »Fehler« nicht relevant.

Vielleicht war das die Wurzel der Strenge, die man dieser Frau anspürte. Deutlich und direkt suchte sie in den ersten Romanen ihrer DDR den Rücken zu stärken. Den »17. Juni« schilderte sie in »Am Morgen ist der Tag ein Kind« (1957) entsprechend der Parteilinie oder führte ihren bürgerlichen »Professor Hudebraach« (1961) zum Entscheid für die DDR. Diese Didaktik stellte sie in Essays seit Mitte der 1960er zunehmend in Frage. Schönstes, erfolgreichstes Produkt dieses Umbaus wurde 1980 der Roman »Die Entgleisung«.

Mit leichter Hand hatte die herbe Autorin eine turbulente Gesellschaftssatire geschrieben, zu der einem einige klassische Vergleiche einfallen, die Wangenheim so gern in ihren Essays bemühte. Auf der Interzonenstrecke entgleist beim verschlafenen thüringischen Dorf Groß-Naschhausen, unbemerkt vom Zugpersonal, ein Güterwaggon. Der Inhalt ist heiß. Ein Valutadruckauftrag für Schweden. »Pornographische« Magazine paketeweise.

Wie eine Flutwelle breiten sich die Bilderbücher aus dem gestrandeten Waggon aus. Kinder, gestandene Männer, die Staatsmacht, die lokale Schule, Ehefrauen, seriöse Bürger, die Partei bekommen damit zu tun. Das Unfassbare ist los - es ist ja nicht nur, was die Bilder zeigen: Das soll aus der sozialistischen DDR stammen? Im örtlichen Lehrerkollegium kommt man zur Überzeugung, es könne nur Importware aus dem Westen sein. Aufrufe, zur Wiederbeschaffung des »Verlustgutes« bleiben so vergeblich wie eine Einwohnerversammlung. Nur der mit Fleisch vertraute Fleischermeister ist nicht zu beunruhigen.

Inge von Wangenheim schreibt eine bestrickende Persiflage auf den »Kampf um die sozialistische Lebensweise«, und eine Galerie des persönlichen und gesellschaftlichen Selbstbetruges steht ihr zur Seite. Die Werkleitung der Druckerei etwa verfügt von vornherein über ein besonderes Kontingent für ausländische Besucher als Beispiel der Leistungsfähigkeit der polygraphischen Industrie. In der DDR herrschte kein Mangel an windigen Begründungen, das Ganze funktionierte nicht zuletzt dadurch, wie auf allen Ebenen getrickst wurde. Als eine westdeutsche Zeitung behauptete, der Roman bestätige die Herstellung von Pornographie in der DDR, beruhigte die Druckgenehmigungsbehörde, in diesem Artikel würden Anliegen und Inhalt des Romans bewusst verfälscht.

Heute fragt man sich, wie eine solche Satire in der DDR überhaupt erscheinen konnte. Aber sie erschien. Das DDR-Verlagswesen war eben in vielem durchlässiger, als man es sich heute vorstellen mag oder kann. Inge von Wangenheim hat über ein staunenswertes DDR-Druckerzeugnis geschrieben, ihr Buch war selber eins.

Inge von Wangenheim: Die Entgleisung. Roman. Mitteldeutscher Verlag. 336 S., brosch., 14,95 €.

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