Zeitzeuge besuchte Seelenbinders Wohnhaus

Der 100 Jahre alte Alfred Wittig kannte den berühmtem Ringer und Antifaschisten persönlich

Alfred Wittig in der Glatzer Straße, links Kurt Schettlinger
Alfred Wittig in der Glatzer Straße, links Kurt Schettlinger

Sie waren Sportler, Kommunisten und antifaschistische Widerstandskämpfer. Sie bauten um das Jahr 1929 herum eine alte Fabrik in Berlin-Friedrichshain zur Turnhalle für Arbeitersportler um. Sie kannten sich gut: Alfred Wittig und der berühmte Ringer Werner Seelenbinder, der bei den Olympischen Spielen 1936 Rang vier belegte und seine Reisen zu Wettkämpfen im Ausland dazu benutzte, Kurierdienste im illegalen Kampf gegen Hitler zu erledigen.

Die Nazis verurteilten Seelenbinder zum Tode und richteten ihn am 24. Oktober 1944 hin. Alfred Wittig ist inzwischen 100 Jahre alt. Er wohnt in einem Seniorenheim in Berlin-Weißensee und wünschte sich, noch einmal die Gedenktafel für Werner Seelenbinder in der Glatzer Straße 6b zu sehen. Dort hatte der Ringer einst gewohnt.

Wittigs Freund Kurt Schettlinger machte es möglich. Er sprach seinen Bekannten Jörg Schmidt an. Gemeinsam holten sie Alfred Wittig gestern mit dem Auto aus dem Seniorenheim ab und fuhren nach Friedrichshain in die Glatzer Straße. Dazu kam Gisela Lingenberg von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Der Anlass: Seelenbinder wäre am Donnerstag 108 Jahre alt geworden.

An einer Öse unter der Gedenktafel brachten die vier einen Blumenstrauß an. Dabei zeigte sich, dass der 100-Jährige noch gut sieht, obwohl er doch in einem Spezialheim für Blinde und Sehbehinderte lebt. Schettlinger wollte einen Knoten in die Schnur machen und bat Schmidt: »Halt mal den Finger drauf!« Doch Wittig reagierte schneller und legte seinen Finger zielsicher auf die richtige Stelle. Des Rätsels Lösung: In das Heim ist Wittig mit seiner inzwischen verstorbenen Frau gezogen. Diese war sehbehindert. Seine Augen sind noch in Ordnung. Er hat das »nd« abonniert und liest es selbst. Auch sonst ist der alte Arbeitersportler noch rüstig und geistig auf der Höhe - er hört bloß schwer.

Von der Glatzer Straße fuhren alle zum Friedhof an der Boxhagener Straße. Dort befindet sich ein Grab mit den Urnen der Genossen Fritz Riedel, Kurt Ritter und Willi Heinze. Wittig gehörte zu ihrer Widerstandsgruppe. Ritter, dessen Namen in der DDR ein Stadion trug, war sein Schwager. Riedel, Ritter und Heinze wurden 1944 beziehungsweise 1945 ermordet. Der gelernte Schneider Wittig, den die Nazis erst ins Zuchthaus und dann ins Strafbataillon 999 steckten, geriet an der Front in Afrika in Gefangenschaft und überlebte so.

Während Schettlinger und Lingenberg das Grab säuberten und einen Blumenstrauß platzierten, stand Wittig dabei und lächelte. Einst hatte er sich um diesen Ort gekümmert. Mittlerweile übernahm der 72-jährige Schettlinger das. Die beiden kennen sich aus der DDR-Gesellschaft für Sport und Technik (GST). Wenn die Blumen an der Glatzer Straße verwelkt sind, wollen Mieter des Hauses den Strauß abnehmen. Das haben sie versprochen. Ein Nachbar hob zum Abschied die Faust und rief: »Nie wieder Faschismus!«

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