Wahre Polen gegen »Heuchler«

Komorowski für staatliche Geschichtspolitik

  • Julian Bartosz, Wroclaw
  • Lesedauer: 2 Min.
Lange vor dem 68. Jahrestag des Ausbruchs des Warschauer Aufstands am 1. August begann die übliche Debatte über dessen Sinn. Und sie prägt auch Tage danach das politische Klima an der Weichsel.

Bei Kranzniederlegungen an verschiedenen Orten der polnischen Hauptstadt wurden Vertreter der Warschauer Führung von Gruppen »wahrer Patrioten« mit Buhrufen empfangen. Die Offiziellen mussten sich anhaltende »Schande«-Rufe anhören und selbst Mahnungen von Veteranen des Aufstands ließen die katholisch-nationalistischen Schreier nicht verstummen. Sie halten die Regierenden für »Pharisäer«, also für Heuchler. Die Vorfälle hallen bis heute nach.

Polens Staatspräsident Bronislaw Komorowski sprach darüber am Sonnabend, als er auf der Warschauer Zitadelle des Tages gedachte, an dem vor 148 Jahren die Führer des gegen die Zarenherrschaft gerichtete Januaraufstands 1863 gehängt wurden. Etwa 30 000 Polen ließen damals ihr Leben. Nach jenem niedergeschlagenen Aufstand - so Komorowski - klafften die Bewertungen seines Sinns ebenso dramatisch auseinander wie bei der Einschätzung des Warschauer Aufstands 1944. Doch habe man sich später einigen können, dass es sich trotz aller Opfer um eine Heldentat handelte.

Um die polnische Einheit in historischen Fragen zu demonstrieren schlug Komorowski vor, am 11 November - dem Tag, an dem 1918 Jozef Piłsudski in Warschau eintraf - einen »Gesamtpolnischen Marsch der Unabhängigkeit« zu veranstalten. Dieses Datum ist als offizieller Staatsfeiertag umstritten. Der Präsident plädiert nun also für eine staatliche Geschichtspolitik. Alle Polen sollen ihre Vergangenheit gleich bewerten. Eine fixe Idee, was gerade an den Debatten über den Warschauer Aufstand 1944 sichtbar wird. Ohne auf deren vielschichtige Einzelheiten einzugehen, lässt sich sagen: Es mehren sich nüchterne Stimmen von Historikern und Publizisten, die ohne die Heldentat junger Soldaten der Heimatarmee (Armia Krajowa) anzuzweifeln, die politische Führung des polnischen Untergrundes umso schärfer verurteilen. Gedacht werden sollte also vielmehr des 2. Oktobers, als die Aufständischen nach 63 Tagen eines aussichtslosen Kampfes kapitulieren mussten - meinte beispielsweise Prof. Piotr Winczorek in der »Gazeta Wyborcza«. Etwa 200 000 Tote lagen in der Stadt, die auf Hitlers Befehl »für ewig ausradiert« werden sollte.

Zwei Anmerkungen dazu: Der US-amerikanische Historiker Timothy Snyder sagte jüngst, er neige zu der gewagten These, den Warschauer Aufstand als Beginn des Kalten Krieges anzusehen. Denn westlich orientierte polnische Politiker wollten die Sowjets in Warschau als »Herren im Hause« empfangen, Stalin aber ließ die Polen verbluten.

Übrigens notiert die polnische Geschichte ausschließlich Aufstände der Adelsgesellschaft und ihrer Nachkommen. Die Erhebungen unterjochter Bauer unter Kostka Napierki Mitte des 17. Jahrhunderts, die Rebellion unter Jakub Szela 1846 in Galizien oder die Krakauer Revolution 1848 unter Edward Debowski gelten dagegen als unpatriotisch, von »fremden Mächten« inspiriert.

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