Der Auenwald rückt vor den Deich

Lehren aus der großen Flut vor zehn Jahren: Bei Dessau soll die Elbe mehr Raum für Überflutungen bekommen

  • Hendrik Lasch, Lödderitz
  • Lesedauer: 6 Min.
Damit Fluten an Siedlungen und Infrastruktur weniger Schaden anrichten, brauchen Flüsse anderswo mehr Platz. Naturschützer versetzen deshalb bei Dessau einen Deich. Doch solche Vorhaben sind immer schwerer umzusetzen.
Hochwasserexperte Georg Rast
Hochwasserexperte Georg Rast

Es sind gewaltige Baumaschinen, die am Rand des Lödderitzer Forstes an der mittleren Elbe in Sachsen-Anhalt über einen wuchtigen Wall rollen. Tieflader kippen Erdreich ab, das von Walzen verdichtet wird. Auf einer 60 Meter breiten, abgeholzten Schneise wölbt sich ein neuer Elbdeich empor. In die noch unbewachsenen Flanken hat der Regen Rinnen gewaschen. Lastwagen ziehen lange Staubfahnen hinter sich her.

Die Großbaustelle lässt nicht unbedingt vermuten, dass es sich bei dem Vorhaben zwischen Dessau und Aken um ein Naturschutzprojekt handelt - eines der wichtigsten, die derzeit an einem deutschen Fluss durchgeführt werden. Noch nie wurde in derart großem Stil ein Deich zurückverlegt. In einem weiten Bogen wird ein 7,3 Kilometer langer Schutzwall um einen Auwald aus Eichen, Eschen und Ulmen herumgebaut, in dem Biber und Fischadler heimisch sind. Wenn er im Jahr 2018 fertiggestellt ist, wird der alte, quer durch den Wald verlaufende Deich aufgebrochen. Bei Hochwasser wird das Gebiet dann geflutet: »So entstehen zusätzliche 600 Hektar Rückhaltefläche für Wasser«, sagt Astrid Eichhorn, Projektleiterin der Naturschutzorganisation World Wide Fund For Nature (WWF). Der Verband trägt das Vorhaben, das 27,8 Millionen Euro kosten soll und vom Bund, dem Land Sachsen-Anhalt sowie dem WWF gemeinsam finanziert wird.

Nach dem Hochwasser 2002 begannen ernsthafte Planungen, den Deich zu verlegen. Damals wurde offensichtlich, dass ein Großteil der Deiche in Sachsen-Anhalt nicht mehr auf eine derartige Flut eingestellt war: Von 1370 Deichkilometern waren 670 sanierungsbedürftig. Dazu zählt auch der Wall im Lödderitzer Forst, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut wurde. Damals überwachten noch Deichläufer die überlebenswichtigen Bauwerke. Ein Häuschen, das ihnen zum Schutz diente, ist im Wald zu sehen. Die Bäume freilich sind bis direkt an den Deich herangewachsen. Einen für Autos befahrbaren Weg gibt es nicht. Als der Wall 2002 zu brechen drohte, wurden Sandsäcke zunächst mit dem Fahrrad herbeigeschafft. Vor die Wahl gestellt, ein modernes Bauwerk in dem geschützten Forst zu errichten oder die Gelegenheit zu einer Verlegung zu nutzen, entschied man sich für letztere Variante.

Raum zum Ausbreiten

Das Vorhaben hat einen »Doppelnutzen für Naturschutz und Wasserwirtschaft«, sagt Hans-Werner Uhlmann vom Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft (LHW) Sachsen-Anhalt. Zum einen erhält die Elbe bei Hochwasser mehr Raum, um sich auszubreiten. Modellberechnungen zufolge könne der Scheitel einer Flutwelle dank der Verlegung um 20 bis 40 Zentimeter abgesenkt werden. Da beim Hochwasser 2002 oft wenige Pegelzentimeter darüber entschieden, ob ein Deich hielt, ist diese Schutzwirkung nicht gering zu schätzen. Zum anderen betont man beim WWF aber auch den Nutzen für den Naturschutz. Weil die von dem neuen Deich umschlossene Fläche von Bäumen bestanden ist und bisherige Felder zudem mit aus Eicheln gezogenen Steineichen aufgeforstet werden, entsteht zugleich neuer Auenwald. Den preist der WWF-Hochwasserexperte Georg Rast als eine Art »deutschen Regenwald«. Obwohl derlei Wälder nur fünf Prozent der Fläche Deutschlands bedecken, beherbergen sie die Hälfte aller hierzulande ansässigen Arten. So sind im Lödderitzer Forst etwa 70 Vogelarten heimisch, sagt Guido Puhlmann, der Leiter des Biosphärenreservats Mittlere Elbe. Viele Pflanzenarten gedeihen nur, wenn die Auenwälder regelmäßig unter Wasser stehen.

Seit Jahrhunderten waren die Wälder jedoch auf dem Rückzug. Weil Menschen gern in den fruchtbaren Flussauen siedelten, wurden dort Bäume gefällt, die gewonnenen Felder wurden durch Deiche vor Hochwasser geschützt. Flüsse wie die Elbe, sagt Rast, verloren so 80 Prozent ihrer natürlichen Überflutungsgebiete. Lediglich ein paar Seen und Tümpel weit hinter den Deichen zeugen noch vom früheren Verlauf des Flusses. Es handelt sich um Altarme, die vom Strom längst abgeschnitten sind.

Wenn sich allerdings Hochwasser nicht mehr in der Fläche ausbreiten kann, werden die Flutwellen höher. Diese Erkenntnis drang zunehmend schmerzhaft ins Bewusstsein, als hohe Pegelstände in den Städten entlang der Flüsse und bei Straßen oder Bahntrassen immer größere Schäden anzurichten begannen. Erstmals kam es in den 1980er Jahren am Rhein zu einem Umdenken. Nachdem 1983 ein Sommerdeich bei einem Hochwasser gebrochen war, wurden dort erste Deichverlegungen konzipiert. 1988 wurde ein ehrgeiziges Programm erstellt, das 700 Millionen Mark kosten und binnen 15 Jahren umgesetzt werden sollte. Doch die Schwierigkeiten und Widerstände waren größer als erwartet: Kürzlich wurde der Plan um weitere 20 Jahre verlängert. Die Kosten werden auf zusätzliche 1,3 Milliarden Euro geschätzt.

Im Lödderitzer Forst hatten Naturschützer und Wasserbauer seit 1994 über eine Verlegung des Deiches diskutiert. Ironischerweise warf ausgerechnet das Hochwasser 2002 die Pläne erst einmal weit zurück. Während die Katastrophe weithin das Bewusstsein dafür schärfte, dass Flüsse mehr Platz brauchen, waren die Menschen in umliegenden Dörfern nicht gewillt, diesen Platz ausgerechnet vor ihren Haustüren und Gartenzäunen zu gewähren. Sie trieb die Sorge um, der näher gerückte Deich könne bei Hochwasser dafür sorgen, dass Grundwasser in die Keller drückt. Eine Bürgerinitiative »Rettet den alten Elbdeich« gründete sich. Es gab viele Versammlungen, in denen hitzig und ausgiebig gestritten wurde, erinnert sich Eichhorn.

Langer Atem

Den Bedenken der Anwohner wurde Rechnung getragen. Ein eigens errichtetes Schöpfwerk soll das Grundwasser unter Kontrolle halten, zudem werden die Bürger an einem Monitoring-Programm beteiligt. Dennoch zieht sich der Bau in die Länge. Gründe sind die aufwendigen Planungsverfahren, der teils schwierige Erwerb notwendiger Flächen sowie Einsprüche von Bürgern. Erst seit 2003 wird offiziell geplant. Der erste Spatenstich erfolgte im Oktober 2010. Während man einst hoffte, den Deich 2013 fertig verlegt zu haben, wird das Vorhaben nun frühestens fünf Jahre später abgeschlossen sein. »Man braucht einen langen Atem«, sagt WWF-Experte Georg Rast, fügt aber hinzu: »Die Überschwemmungsgebiete gingen im Laufe etlicher Jahrhunderte verloren. Auch an der Rückgewinnung müssen mehrere Generationen arbeiten.«

Insgesamt ist die Bereitschaft, dem Fluss wieder mehr Raum zu geben, noch immer begrenzt. Ein Aktionsplan der Internationalen Kommission zum Schutz der Elbe (IKSE) sieht vor, dass an 20 Stellen Deiche zurückverlegt und fünf Polder gebaut werden sollen. Letztere können bei Bedarf geflutet werden. Insgesamt wäre eine Fläche von 8370 Hektar betroffen. »Selbst wenn das alles zurückgewonnen würde«, sagt WWF-Experte Rast, »wäre das lediglich ein Prozent der einstigen Überflutungsfläche.«

Doch ob selbst dieses vergleichsweise bescheidene Ziel zu erreichen ist, bleibt fraglich. Von 20 Deichverlegungen sind erst vier fertiggestellt. Der Lödderitzer Forst folgt 2018. Weitere neun Projekte befinden sich erst in der Planung. Wann mit dem Bau begonnen wird, ist unklar. Ein Grund liegt auf der Hand: In Zeiten, in denen Felder für den Anbau von Nahrungsmitteln und Energiepflanzen benötigt werden, werden Flächen immer wertvoller. Zwar plädiert Georg Rast dafür, auch vor verlegten Deichen Landwirtschaft zuzulassen. Doch die Flächen wären nur als Weide nutzbar und nicht mehr für den Anbau von Mais, der den Bauern viel mehr Geld bringt.

Es dürfte deshalb in Zukunft noch schwieriger werden, Bürger und Behörden von derlei Rückverlegungen zu überzeugen: »Man wird auf verschärften Widerstand stoßen«, ist sich Rast sicher. So bitter es klingt: Womöglich bedarf es hin und wieder einer Flut, um in Erinnerung zu rufen, dass Flüsse Platz brauchen. Die Flut 2002, sagt Uhlmann, ist inzwischen zehn Jahre her: »Viele Menschen haben das sehr erfolgreich verdrängt.«

Idyllisches Elbufer – noch ohne Bagger und Tieflader.
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