Platzhirsche

  • Lesedauer: 2 Min.

Niemand kann das Problem der Gentrifizierung in Berlin ernsthaft leugnen oder als Petitesse abtun. Dem schlimmen Mechanismus, der durch steigende Mieten Stammbevölkerungen aus ihren Stadtvierteln vertreibt, muss entschieden entgegengetreten werden. Eine wichtige Frage ist dabei aber die Wahl der Mittel und der Strategie. Das pauschale Anfeinden von Touristen, Zugezogenen und Kultur kann man gerade im gottlob zumeist (noch) weltoffenen Berlin nur als kleinkariert und heuchlerisch abtun.

Auch sollte man genau zwischen den Steinen des Anstoßes differenzieren. So ist Unmut über und Protest gegen die fatale Spree-Ufer-Bebauung oder die massenhafte Umwandlung von Wohnraum in Eigentums- und Ferienwohnungs-Appartments sehr zu begrüßen. Spießig und abwegig sind dagegen Aggressionen gegen Kunstgalerien, Latte Macchiato- oder Bioläden. Schließlich haben auch die Neuköllner Besseres verdient, als eine reine Nachbarschaft aus Suffkneipen, Spielhöllen und Aldi-Märkten.

Und wertet nach Lesart eines Teils der Anti-Gentrifizierungsbewegung nicht auch der deutsche »Anarcho«, der im gotischen Viertel Barcelonas auf Durrutis Spuren wandelt, jenes auf? Hat er es verdient, als Vorbote der Vertreibung verunglimpft zu werden? Natürlich nicht - ebenso wenig wie die spanischen Jugendlichen in Berlin. Ja, Touristen mögen manchmal nerven, aber einen Rollkoffer zu ziehen, bedeutet noch lange nicht, dass dieser voller Geld ist.

Auch sind einstige Gentrifizierer zum Teil heute die heftigsten Verteidiger gegen jene Kiezveränderungen, die sie selber eingeleitet haben. So galten die ersten Bioläden im Kreuzberg der 70er Jahre als Schlag gegen Supermarktketten. Und ist in Berlin nicht gefühlt fast Jeder ein Zugezogener? Die Tendenz, sich aber schon nach einer kurzen Schonfrist als Platzhirsch zu gebärden, kann gut mit dem vielzitierten Satz der Frankfurter Schule illustriert werden: »Die schlimmsten Kritiker der Elche waren früher selber welche«.

Das einzig sinnvolle Instrument gegen Verdrängung ist eine Mietendeckelung durch Gesetze. Hier sind der Senat und der Bund in der höchsten Pflicht, gegen das drängende Problem der unwürdigen Vertreibung endlich vorzugehen. Hier muss auch Druck gemacht werden - doch genau dafür ist das Lamento über shoppende Schwaben kontraproduktiv, weil es von den tatsächlich Verantwortlichen für die Misere ablenkt. Man darf also die (Ess-, Café- und Kunst-)Kultur nicht aus »armen« Kiezen verbannen, denn das bedeutet Ghettobildung und die Bewohner von den einzigen Vorteilen des Großstadtlebens abzuschneiden »Wir bleiben alle«, sollte also meinen: die »Armen« UND die urbane Lebensqualität.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal