Jack the Ripper der Architektur

Westeuropas höchster Wolkenkratzer hat viele Kritiker und Bewunderer

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 3 Min.
So reich wie an Sehenswürdigkeiten ist London an Bausünden. Und die Wolkenkratzer sind besonders beliebte Steine des Anstoßes. Mit »The Shard« ist ein neuer hinzugekommen.

Der Kolumnist Simon Jenkins ließ keinen Zweifel daran, was die »Scherbe«, der mit 310 Metern höchste Wolkenkratzer Westeuropas, für Britanniens Metropole anrichtet: »The Shard hat das Gesicht Londons auf ewig aufgeschlitzt und entstellt.« Das einschneidende Bauwerk am Südufer der Themse, neben dem Bahnknotenpunkt von London und unweit von Tower Bridge, gilt vielen Kritikern gleichsam als der »Jack the Ripper« der Architektur. Der Kunstkritiker des »Guardian«, Jonathan Jones, schrieb über das schlanke Gebäude in Gestalt einer gezackten Glasscherbe und über seinen Schöpfer, den italienischen Stararchitekten Renzo Piano, der aus dem architektonischen Kleinod Genua stammt: »Die Vorstellung ist absurd, dass Genua Piano erlaubt hätte, in seiner Heimatstadt etwas derart Monströses und Maßstabverletzendes in der historischen Altstadt zu errichten wie die ›Glasscherbe‹. Warum sollte sich eine Metropole derart selbst bespucken?«

Kritiker Jones schätzt den Italiener. Aber in diesem Fall verurteilt er dessen provokantes Herangehen und erinnert an Pianos innovative Bauten im heimischen Genua. Die seien eine Augenweide und von ihrem Schöpfer so angelegt, dass sie nicht »das atmosphärisch mittelalterliche und barocke Herz der dicht bebauten Stadt« zu übertrumpfen suchen. Vielmehr habe Piano dort mit Sympathie für die gewachsene Substanz und deren Atmosphäre gebaut. Er frage sich, welcher Teufel Piano geritten habe, in Londons historischem Herz mit allen Regeln der Zivilisiertheit zu brechen, »die ich gewöhnlich mit seiner Architektur verbinde«?

So namhaft und zahlreich wie die Kritiker ist die der Bewunderer, und vielleicht liegt ja in so scharfer Polarisierung der Keim für spätere Anerkennung. Auch der Eiffelturm, heute kaum vorstellbar, war bei seiner Einweihung 1889 unter wortführenden, kunstgewandten Bourgeois verhasst. Apropos Eiffelturm: Der Bauherr der »Scherbe«, Irvine Sellar sieht in seinem Bau »ein modernes Wahrzeichen für unsere großartige City, das als elegantes, machtvolles Symbol für Hoffnung und Wohlstand dient«. Mit ihm könne London dem Eiffelturm »in den Hintern treten«.

Dass ein Bauherr sein Baby mag, verwundert keinen. Doch auch architekturverständige Leute haben sich in die »Scherbe« verliebt. Kurator Norman Rosenthal etwa rühmt »The Shard« als »großartige Kathedrale, die aus allen Blickwinkeln und Entfernungen »elegant und inspirierend« wirke. Seine scheinbar gebrochene Spitze erzeuge ein höchst poetisches Bild. »Als reiner Glasbau ähnelt es faszinierend einem geschliffenen Diamanten«, sagt Rosenthal und fügt an, dass er in ihm »das schönste himmelstrebende Gebäude Londons seit der St. Paul's Cathedral« sieht. Die größte protestantische Kirche Englands (Architekt Sir Christopher Wren) entstand immerhin schon 1675-1710.

Die »Scherbe«, dreimal so hoch wie St. Pauls, beherbergt unten Geschäfte, weiter oben Restaurants und ein 200-Zimmer-Hotel, dann 13 Etagen mit Luxusapartments, von denen eines bis zu 65 Millionen Euro kosten kann, und auf dem Höhepunkt Aussichtsetagen. Die werden von Hochgeschwindigkeitslifts bedient und kosten 30 Euro pro Person, Familientickets ausgeschlossen.

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