Ein Kosmos voller Dämonen

Der Weltklasseautor António Lobo Antunes wird siebzig

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: 4 Min.

Sei gewarnt, Leser, denn eine bedrückende Welt tut sich auf - der Erzählkosmos des Dichters António Lobo Antunes. Trotz seiner klaustrophobischen Stimmung gehört dieser Raum zum Besten, was die zeitgenössische Literatur hervorgebracht hat, sein Schöpfer hätte längst den Nobelpreis verdient. Und so ist dieser Kosmos beschaffen: gedeckte Farben, gedämpfte Geräusche, jede Bewegung gebremst, in Einzelfotos zersplittert. Als verschlüge es dich, indem du ein Buch aufschlägst, in den Kriseninterventionsraum (vulgo: die Gummizelle) einer psychiatrischen Klinik. Kein Signal von draußen. Keine Kommunikation. Dies könnte auch eine Gefängniszelle sein, ein Unterstand im Lärm eines Kolonialkriegs. Oder das verwaiste Wohnzimmer einer gutbürgerlichen Familie, hinter deren Fassade das Grauen lauert. Doch, ja, es gibt Bilder in diesem Raum, Bilder ohne Zahl sogar, lichtschwere Impressionen, aber jede Wahrnehmung ist nur Schatten, Spiegelung - die Erinnerung an etwas schmerzlich Vergangenes.

Zwei Arten Menschen existieren in jenem Kosmos. Im Vordergrund die Erzähler - in den meisten Romanen ein Grüppchen von Solostimmen, sie haben keinen Kontakt zueinander, doch sie fallen einander beständig ins Wort, jeder Satz unterbrochen, jede Story zerhackt, die Chronologie scheint aufgehoben. Die Erzähler haben starke dunkle Gefühle, Hass, Wut, Abscheu, Neid; Trauer und Sehnsucht sind noch die hellsten. Im Hintergrund stehen die anderen, die Bewohner eines Dorfes oder einer Stadt, doch diese anderen bleiben schemenhaft, eine amorphe Menge. Beide Gruppen, auch die Erzähler, wirken seltsam leblos, Gespenster sind sie, aus dem Kopf ihres Schöpfers.

António Lobo Antunes: geboren am 1. September 1942 in Lissabon. Er studierte Medizin, mit einem IQ am oberen Limit - 180. 1971 ging er für 27 Monate als Militärarzt nach Angola; bis heute träumt er vom Krieg, »ein Traum voll unendlicher Angst«. Nach dem Krieg wurde er Psychiater, Chefarzt, er war es bis 1985. Ende der Siebziger publizierte Antunes den ersten Roman, dreißig Bücher folgten, sie entstanden auf archaische Art: Zettel, Bleistift, winzige Schrift.

Manche Werke haben sprechende Titel: Einblick in die Hölle (1981), Reigen der Verdammten (1985), Das Handbuch der Inquisitoren (1996), Portugals strahlende Größe (1997), Anweisungen an die Krokodile (1999), Was werd ich tun, wenn alles brennt? (2001). Und fast alle Bücher erzählen vom immer Gleichen: von Selbsthass und Trauma der Portugiesen nach dem Untergang ihres Weltreichs, von der grauenvollen Schlächterei in Afrika und von den Folgen der langen Salazar-Diktatur.

Man kann die Romane als Beiträge zur fiktiven Autobiografie eines Besessenen verstehen. Er »hatte sich selbst zum einzigen Thema einer monotonen Symphonie gemacht«, heißt es in Antunes' Erstling »Elefantengedächtnis«. Oder die Texte skizzieren auf immer andere Art die Heimat als Nekropole. »Alles findet sich in Verwesung, stirbt oder ist gestorben«, notierte der Autor 1983. Wer mag, kann das Oeuvre auch als große Metapher lesen, eine Metapher auf jene Schuld, die wir alle verdrängen, wir Leser aus der Ersten Welt. Antunes' Dämonen, geboren in Raubzügen abendländischer Ritter quer durch alle Zeit, es sind unsere Dämonen.

In einem Roman von 2008, der jetzt ins Deutsche übertragen wurde, treffen wir die Untoten wieder. Der Ort: ein Landgut am Tejo. Von der Veranda geht der Blick über Felder - Korkeichen und Weizen; am anderen Ufer des Flusses liegt ein Nest namens Trafaria, ein Städtchen, »in der die Lichter die Dunkelheit unterstreichen«, ein »Ort der Verstorbenen« voll leerer kleiner Fenster. Trafaria, so lesen wir, brodelt förmlich vor Gespenstern. Das Gut hat lange geblüht, seit einiger Zeit geht's bergab. Nach der Nelkenrevolution kamen marodierende Bauern und Soldaten, »sie setzten den Getreidespeicher in Brand, schnitten dem Kleinvieh die Kehle durch und brachen den Kühen die Beine«.

Eine typische Antunes-Figur beherrschte das Reich: der Großvater, ein harter Hund, kaltherzig, gierig, brutal, ein Mann, »der die Welt befehligte«, umgeben von einer »Aura der Angst«. Der Patriarch ist vor Jahren gestorben, genauer: er wurde ermordet, von Aufständischen erschossen oder vom eigenen Sohn getötet, mit der Hacke, ein bestialischer Befreiungsschlag. Das Gesetz des Alleinherrschers gilt noch über seinen Tod hinaus; die Nachkommen haben Mühe, sich zu befreien. Die Ehefrau? War sein Eigentum. Der Sohn? Ein Idiot. Die Enkel? Schwächlinge. Ein Lichtblick im Buch: Der jüngste Enkel wird sein Erbe wohl ausschlagen, er will den Teufelskreis durchbrechen.

Wie fast jedes Buch des António Lobo Antunes bündelt auch dieser Roman das gesamte Werk. Da sind sie wieder, die Kernbegriffe: Diktatur und Friedhof. Und auch der Titel umfängt den kompletten Kosmos des Portugiesen: Ein »Archipel der Schlaflosigkeit« ist dieser Kosmos, bewohnt von Dämonen.

António Lobo Antunes: Der Archipel der Schlaflosigkeit. Roman. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand. 320 S., geb, 22,99 €.

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