In einem Knast, der nicht so heißt

Die Comiczeichnerin Paula Bulling schildert erstmals Flüchtlingsschicksale in einer Graphic Novel

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.
Reiseverbote und Essenmarken, Isolation und Vorurteile: So leben Flüchtlinge in Deutschland. Die Zeichnerin Paula Bulling erzählt ihre Schicksale in einer Graphic Novel.

Ein gesichtsloser Plattenbau, eine Peitschenlampe, eine Mülltonne. Davor stehen drei Menschen, darüber dehnt sich viel Weiß. In die Leere hat Paula Bulling Sprechblasen gezeichnet. »An diesem Ort frage ich mich: Wer bin ich«, sagt ein Afrikaner, »und wie kann ich ein normal Mensch sein?«

Es ist eine Frage, die als Leitmotiv über Bullings erster Graphic Novel stehen könnte, einer gezeichneten Erzählung, in der die 28-jährige Illustratorin das triste Leben von Migranten in Deutschland, genauer: in Sachsen-Anhalt erzählt. »Willkommen im Land der Frühaufsteher«, heißt der Band, in Anspielung auf den Werbeslogan, mit dem das Bundesland für Regsamkeit und Arbeitseifer seiner Bürger wirbt. Die Menschen indes, die in Flüchtlingsheimen am Rand von Orten wie Halberstadt, Möhlau oder Harbke leben, dürfen nicht arbeiten, keine Sprachkurse besuchen, sie dürfen nur warten. »Bedrückend, ja!«, sagt einer der Insassen bei Bullings erstem Besuch: »Wir leben hier in eine Knast, der seine Name nicht sagt.«

Bulling, das verhehlen ihre Zeichnungen nicht, findet die Lebensumstände, in die Migranten in Deutschland gezwungen werden, verwerflich. Beim Studium an der Burg Giebichenstein kam die Illustratorin in Kontakt mit Künstlerfreunden, die aus Afrika stammen, sowie mit der »No Lager!«-Initiative Halle. Sie nahm an Protesten gegen das verrufene Heim im thüringischen Katzhütte teil, ein »sehr drastischer Einstieg in das Thema«, wie sie sagt. Dass im Buch eher die Umstände in Unterkünften aus Sachsen-Anhalt geschildert werden, habe biografische Gründe, sagt sie: Mehr oder weniger restriktiv und trist seien die Verhältnisse überall.

Es sind groteske Zustände, die Bulling in oft skizzenhaften Zeichnungen darstellt: Menschen, die Mahlzeiten aus dem stets gleichen Inhalt der »Fresspakete« bereiten müssen; die, wenn sie zur Disco wollen, aus dem abgelegenen Heim durch den Wald laufen und zudem überlegen müssen, ob sie gegen Gesetze verstoßen wollen - die Disco findet jenseits der Kreisgrenze statt, die sie nicht queren dürfen. Auf plakative Darstellungen von Naziattacken verzichtet sie. Das Verhältnis vieler Deutscher zu Zuwanderern schildert treffend auch eine Episode auf einem Bahnhof, als sich ein Fotograf mit Bullings Künstlerfreund partout in dem vermeintlich »primitiveren« Französisch der Afrikaner unterhalten will - obwohl dieser sehr gut Deutsch spricht.

Dass sich Bulling selbst zur Figur der Erzählung macht, sorgt dafür, dass diese nicht belehrend oder moralisierend wirkt: Der Leser lernt die Zustände gemeinsam mit der Zeichnerin kennen - und kann wie sie oft nur den Kopf schütteln. Die Erzählhaltung hilft Bulling auch aus einem Dilemma. Im Buch wirft ihr ein Bekannter vor, »weiße Bilder von schwarzen Menschen« zu reproduzieren - und den »Tropenhelm« zu tragen, unter dem weiße Europäer losziehen, um das Fremde zu entdecken.

Bei Lesungen, zu denen Bulling seit Veröffentlichung des Comics eingeladen wird, löst sie das Dilemma, indem sie gemeinsam mit einem nigerianischen Freund auftritt, der sie schon bei dem Buch unterstützte. Gemeinsam mit diesem arbeitet sie auch an zwei neuen Projekten. Derzeit beteiligt sie sich in Brüssel an einem Projekt, bei dem zehn Künstler Geschichten über den alten Getreidemarkt erzählen. In ihrem Fall wird eine Verbindung zu einem Markt in der nigerianischen Hauptstadt Niamey hergestellt. Dorthin soll sie später ein weiteres Projekt führen. Erzählt werden soll, was Menschen dazu treibt, ihre Heimat zu verlassen und in eine Region aufzubrechen, die als wohlhabend, zivilisiert und gastfreundlich gilt - und in der die Erwartungen dann oft so bitter enttäuscht werden.

Wie trist die Realität in den Heimen ist, wissen viele Deutsche indes nicht. Bullings Graphic Novel kann, so ihre Hoffnung, den Blick für die unhaltbaren Zustände ein wenig öffnen. Denn auch diese unschöne Wahrheit hat die Zeichnerin geschildert bekommen: Wenn Flüchtlinge selbst über ihre Lebensumstände erzählen, wird ihnen oft nicht geglaubt. Es bedarf offenbar erst eines Buches, das eine Deutsche gezeichnet hat, um den Blick zu öffnen.

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