Arabische Welt auf dem Weg der Modernisierung

Der Demograf Youssef Courbage glaubt nicht, dass reaktionäre Kräfte die Entwicklung aufhalten können

  • Lesedauer: 5 Min.

nd: 2007 haben Sie mit Emmanuel Todd Ihr Buch »Le Rendezvous des Civilisations« veröffentlicht, haben Sie den »Arabischen Frühling« vorhergesehen?
Courbage: Uns war schon klar, dass selbst in den Staaten der arabischen Welt, die am meisten zurückgeblieben sind, etwas passieren würde. Wir Demografen sind wie Seismologen, die ein Erdbeben voraussagen können, aber nicht den genauen Zeitpunkt. Es gibt eine universale Abfolge, wonach Gesellschaften sich von der kulturellen Revolution über die Säkularisierung zur demografischen Revolution entwickeln. Und alles endet in einer politischen Revolution. So wie es in England, Frankreich und in Russland geschehen ist, musste es in der arabischen Welt geschehen. Es gab keinen Grund anzunehmen, Araber oder Muslime durchliefen nicht die gleiche Entwicklung wie der Rest der Menschheit.

Nach mehr als einem Jahr: Haben die Umbrüche für die einfachen Leute zu Modernisierung und Fortschritt geführt?
Das ist eine wichtige Frage. Wenn die Revolutionäre in Frankreich 1789 über alles hätten nachdenken müssen, was sich in dem Jahrhundert nach der Französischen Revolution ereignet hat, hätten sie möglicherweise Louis XVI. nicht geköpft, sondern auf dem Thron gelassen. Wenn sie gewusst hätten, dass es das Terrorregime geben würde, dann die Restauration, die zwei Napoleons, die Legitimisten. Die Französische Revolution hat erst 100 Jahre später Gestalt angenommen, erst nach dem Französisch-Deutschen Krieg 1871. All das kann man nicht voraussehen. Was wir sagen können, ist, dass die Entwicklungen in der arabischen Welt unter den soziokulturellen und demografischen Bedingungen der arabischen Gesellschaften unausweichlich sind.

Ist der Vormarsch der islamistischen Bewegungen nicht eher ein Zeichen des Rückschritts als der Modernisierung?
Warum sind die islamistischen Bewegung jetzt so präsent? Wo wir doch eher eine säkulare Revolution erwartet haben, nicht eine islamistische? Meiner Ansicht nach tragen dafür die säkularen, linken und liberalen Parteien eine große Verantwortung. Nach Umfragen, die wir in einigen Staaten gemacht haben, sollten die Islamisten in diesen Gesellschaften nicht mehr als 20 Prozent haben. In Tunesien erhielten sie bei den Wahlen genau das Doppelte, nämlich 40 Prozent! Selbst Freunde von mir in Marokko haben ihre Stimme der PJD, der (islamischen) Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, gegeben. Als Grund haben sie gesagt, dass die PJD von allen Parteien in Marokko diejenige ist, die am wenigsten mit dem Regime zu tun hat. Das war also keine Stimmabgabe für den Islam, sondern eher eine Abstimmung gegen die anderen Parteien. Und noch etwas: Die säkularen Parteien in der Arabischen Welt haben alle despotisch regiert. In Irak, Tunesien, Ägypten, Syrien wird Säkularismus mit Gewaltherrschaft in Verbindung gebracht. Das spielt eine wichtige Rolle im Denken der Leute.

Sie haben die Französische Revolution erwähnt. Natürlich war die Welt 1789 anders als heute. Die Umbrüche heute geschehen in einer globalisierten Welt und in einer sehr sensiblen Region, wo die Weltmächte ihre geostrategischen Interessen haben. Ist es angesichts dessen überhaupt möglich, dass das Volk eine Revolution macht, die seinen ureigenen Interessen dient und nicht den Interessen all dieser Mächte?
So sollte es sein. Doch natürlich gibt es Staaten, die starken Einfluss ausüben, und je schwächer ein Land ist, desto stärker der Einfluss von außen. Nehmen wir Libanon. Dort spielen Syrien, Israel und selbst die Palästinenser eine größere Rolle, als es in Syrien je der Fall sein könnte. Dort wiederum haben eher die Türkei, Iran und Irak ein Gewicht, allerdings viel weniger, als in einem kleinen, schwachen Land.

Wichtiger aber ist die interne Entwicklung eines Landes. Im Fall Syriens spielen die internen Bedingungen für die Veränderung eine wichtigere Rolle als der regionale oder der internationale Einfluss.

Die Rolle der Frauen im »Arabischen Frühling« wird durch islamistische Bewegungen verdrängt. Sind die Rechte der Frauen in Gefahr?
Die Frauen in der arabischen Welt haben schon viel erreicht, auch wenn es nicht so sichtbar ist. Heute heiraten sie viel später als früher. Manchmal heiraten sie gar nicht, um nicht an einen Cousin oder an jemanden verheiratet zu werden, den sie nicht wollen. Viele Frauen benutzen Verhütungsmittel, sie bestimmen selber über ihren Körper, und das verunsichert eine patriarchale, chauvinistische Gesellschaft. Darum sehen wir Salafisten in Tunesien oder anderen arabischen Staaten: Die Freiheit der Frauen macht ihnen Angst.

Eine Reaktion auf die Modernisierung?
Genau. Wenn die Modernisierung sehr schnell vorangeht, wie in Tunesien beispielsweise, wollen reaktionäre Kräfte das aufhalten. Und dafür stehen die Salafisten. Sie wollen zurück zu dem, was sie als Beginn einer idealen Gesellschaft betrachten, zum Beginn des Islam.

Wie sieht Ihre Prognose für die Entwicklungen in der arabischen Welt aus?
Wichtig ist, wie sich die Lage in Ägypten entwickelt. Es ist das größte arabische Land. Wie wird es nach zwei Jahren mit der islamistischen Regierung in Marokko aussehen, welche Rolle wird die Monarchie spielen? Wir müssen abwarten, wie sich Jemen, wie Libyen sich entwickeln. Besorgt bin ich über die Lage in Libanon, das sich nach unseren Erkenntnissen demografisch sehr gut entwickelt. Schiiten und Sunniten nähern sich an, ebenso Muslime und Christen. Das zeigt, dass Libanon auf dem Weg zu einer friedlichen Gesellschaft ist. Ich hoffe, unsere Analyse hält stand in diesen instabilen Zeiten.

Und was empfehlen Sie den internationalen Akteuren?
Geduld. Diese Berg- und Talfahrt, die wir beobachten, wird nicht von Dauer sein. Die arabische Welt befindet sich auf einem beständigen Weg in Richtung Modernisierung. Die arabischen Gesellschaften entwickeln sich und die Zivilisationen der arabischen und der europäischen Welt werden sich verbinden.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal