Allegra Engiadina!
Ein Streifzug durch das berühmteste Hochtal der Schweizer Alpen
Das Engadin - im Rätoromanischen Engiadina - wurde viel gepriesen: Als Land des Lichts, Ort der Magie, als Gegend, in der Natur und Kultur eine Symbiose eingehen und wo Künstler, Intellektuelle, internationaler Jetset und Familienurlauber sich angeblich gleichermaßen wohlfühlen. Warum? Das lässt sich erahnen, wenn man das Tal flussaufwärts bis zu seinem Ursprung bei Maloja durchquert und sich auf Landschaft und Kultur, auf Geschichte und Geschichten einlässt.
Wir beginnen unsere 100 Kilometer lange Reise auf der Route 27 durch das Engadin in Martina nahe der österreichischen Grenze. Alle Ortsschilder sind zweisprachig, denn in der ehemals abgelegenen Region hat sich das Bündnerromanische bis heute halten können.
Atmosphäre der Jahrhundertwende
Folgt man dem Straßenverlauf, so passiert man Ramosch, von wo sich ein Abstecher ins tief eingeschnittene Val Sinestra lohnt. Völlig unvermittelt taucht mitten im Wald ein großes schlossartiges Gebäude auf, das auf Grund der nahe gelegenen Heilquellen ab 1912 als Kurhaus diente. Das Gemäuer strahlt die Atmosphäre der Jahrhundertwende aus - mit ein wenig Schauerromantik. Es wird erzählt, dass noch heute ein längst verstorbener belgischer Kurgast nachts durch die Flure streicht und Löffel zum Fliegen bringt. Das ehemalige Kurhaus und das dazugehörige Berghaus sind bewirtschaftet. Im Hotel Val Sinestra kann man trotz des starken Schweizer Franken verhältnismäßig günstig Urlaub machen, weil die Mithilfe der Gäste zum Konzept des niederländischen Betreibers gehört.
Wieder im Inn-Tal, gelangt man bald nach Scouls/Schuls, den Hauptort des Unterengadins. Dort fährt eine Kabinenbahn auf die Motta Naluns, von wo aus man im Sommer zu Fuß, im Winter mit den Skiern die alpine Bergwelt erkunden kann.
Weiter flussaufwärts findet sich die Trink- und Wandelhalle Vulpera. Sie ist mittlerweile nur noch einmal pro Woche geöffnet, denn die Zeit der Trinkkuren gehört definitiv der Vergangenheit an. Das oberhalb der Trinkhalle gelegene Hotel Waldhaus, ein Wahrzeichen der Belle Epoque, fiel im Jahr 1989 Brandstiftern zum Opfer. Grotesk, dass dieser Großbrand vom Schweizer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt fiktiv vorweggenommen worden war: Im selben Jahr erschien nämlich dessen letzter Roman »Durcheinandertal«, für den er das Hotel Waldhaus als Schauplatz gewählt hatte. Dort sollen verbrecherische Großindustrielle, korrupte Bankiers und unehrenhafte Top-Manager zu Armut bekehrt werden, was natürlich misslingt. Am Ende des Romans geht das Hotel in Flammen auf - nur ein junges Mädchen und ihr Hund überleben das Inferno
Ganz in der Nähe thront Schloss Tarasp, das weithin sichtbare Wahrzeichen des Unterengadins. Es durchlebte eine wechselhafte Geschichte bis es um 1900 vom Erfinder des Mundwassers »Odol« mit viel finanziellem Aufwand und Liebe zum Detail renoviert und ausgestattet wurde.
Begeben wir uns wieder auf die Route 27. Bis 1925 hatten sich die Engadiner in zehn Volksentscheiden erfolgreich gegen den Automobilverkehr auf dieser Straße gewehrt. Ein Besuch der Dörfer Ftan, Ardez und Guarda lohnt sich nicht nur wegen der schönen Lage, sondern ganz besonders auch, um die stattlichen Engadiner Häuser kennenzulernen. Typisch für diese mächtigen Steinhäuser sind die breiten Eingangstore, an denen seitlich Sitzbänke zum Verweilen einladen, die tiefen Fensterfluchten, Erker und Verzierungen der Fassaden mit Malerei und Sgraffitos. Man spürt eine historisch verbuchte Wohlhabenheit, die sich die Bergbewohner allerdings hart erarbeiten mussten:
Die Dörfer der Region waren lange Zeit so bitterarm, dass viele Menschen seit dem 15. Jahrhundert auswanderten und sich in der Fremde verdingten. Die Aufstiegsgeschichte der Engadiner Zuckerbäcker, die sich in ganz Europa niederließen, ist legendär. Auf unterhaltsame Weise lässt sie sich nachlesen in dem historischen Roman »Josty. Eine Liebe zwischen Berlin und Sils Maria«.
Zurück in die Schweizer Berge gekehrt, leisteten sich die Konditoren für hiesige Verhältnisse aufwendige Wohnhäuser und gründeten, da ihnen das Dorfschulniveau nicht mehr passend für ihre Spösslinge erschien, Privatschulen - als erstes das Höhere Töchterinstitut Fetan, heute »Hochalpines Institut Ftan« mit Sportschwerpunkt. Später folgten das Lyceum Alpinum in Zuoz und weitere Internate für die internationalen Eliten.
Pompöse Hotels und teure Läden
Wir kommen bei Zernez vom Unterengadin ins Oberengadin, wo bei Bever die Rhätische Bahn passiert. Sie windet sich auf einem ihrer berühmtesten Streckenabschnitte im Albulatal kurvenreich durch die Landschaft, verschwindet in Tunnels und taucht auf mächtigen steinernen Viadukten wieder auf. Eine Zugfahrt und der Besuch des Bahnmuseums in Bergün gehören mit zu den musealen Höhepunkten in der Region, auch wenn man sich dafür ungefähr 30 Kilometer vom Inntal entfernen muss.
Das mondäne Zentrum des Oberengadins ist fraglos St. Moritz. Schön ist das Ortsbild nicht, aber der Blick auf Silser- und Sivaplanersee entschädigt doch über die Enttäuschung hinweg, nur pompöse Hotels und teure Läden vorzufinden. In fast jedem Winkel des Ortes spürt man den gewachsenen Reichtum. Hier logiert der internationale Geldadel in bis zu 100 Millionen Franken teuren Anwesen und trifft sich in prestigeträchtigen Privatclubs.
Seinen Aufschwung nahm der kleine Ort in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als der findige Hotelier Johannes Badrutt seine Pension zum ersten Grandhotel in den Hochalpen, das »Engadiner Kulm«, ausbaute. Elektrische Beleuchtung, fließend Wasser, hydraulisch betriebene Fahrstühle waren damals absoluter Luxus. Im Gegensatz zu Kurorten wie Davos mit seinen Sanatorien oder auch zu den Badeorten im Unterengadin, die ihren Gästen Heilung von den verschiedensten Krankheiten und Zipperlein versprachen, setzte Badrutt von Anfang an auf Sport und Luxus als Marketingfaktor. Mit dem Einzug des Wintersports erlangte St. Moritz Weltruf, und weitere Hotelgründungen folgten.
Das letzte noch im Familienbesitz befindliche Luxushotel ist das Hotel Waldhaus im charmanten Nachbarort Sils. Sils Maria war der Sehnsuchtsort renommierter Künstler und Intellektueller. Der Philosoph Friedrich Nietzsche verbrachte viele Sommer dort, auch Hermann Hesse, Rainer Maria Rilke, Thomas Mann, Paul Celan, Theodor W. Adorno, Herbert Marcuse zog es immer wieder in das Dorf zurück. Die erst jetzt wieder entdeckte, 1942 jung verstorbene Schweizer Reisejournalistin Annemarie Schwarzenbach - Anarchistin, Antifaschistin, Lesbe aus schwerreichem Elternhaus - hatte Sils ebenfalls zu ihrer Wahlheimat auserkoren.
Ein Stück vorgezogene Utopie
Unsere Reise durchs Engadin endet in Maloja auf 1815 Höhenmetern, wo unweit des Passes der Inn entspringt. Wer unkonventionelle Urlaubstage verbringen will, dem sei das etwas außerhalb liegende Gehöft Salecina ans Herz gelegt. Das selbstverwaltete Ferien- und Bildungszentrum Salecina, wo die Gäste Freizeit und Hausarbeit teilen und selbst entscheiden können, wie viel sie für Kost und Logis bezahlen, wurde 1971 von den überzeugten Zürcher Genossenschaftern Amalie und Theo Pinkus - sie Sozialdemokratin, er freigeistiger Kommunist - gestiftet und verwirklicht. Es ist auch heute »ein Stück vorgezogene Utopie« wie es sich die Stifter gewünscht hatten. Auch wenn im Seminarprogramm mittlerweile nicht mehr die politischen, sondern kulturelle und sportliche Angebote dominieren, ist das Haus ein Ort, an dem sich Menschen unterschiedlicher Herkunft treffen, austauschen, politisieren und Zeit miteinander verbringen können.
Von Maloja führt die Route 27 kurvenreich durchs Bergell direkt nach Italien - auch diese Gegend ist eine Reise wert …
● Selina Chönz und Alois Carigiet: Schellenursli. Ein Engadiner Bilderbuch. 28. Auflage. Orell Füssli, Zürich 2010, ISBN 978-3-280-01644-2.
● Friedrich Dürrenmatt: Durcheinandertal. Zürich: Diogenes Verlag, 1998, ISBN-10: 3-257-22438-9
● Isabelle Azoulay: Josty. Eine Liebe zwischen Berlin und Sils Maria. Elfenbein Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-932245-99-2
● Rudolf M. Lüscher und Werner Schweizer: Amalie und Theo Pinkus-De Sassis. Leben im Widerspruch. 2. Auflage Zürich: Limmat Verlag, 1994, ISBN 3-85791-202-2
● Internetfundstellen:
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