»Wir müssen sehr klandestin arbeiten«

nd-Gespräch über die Situation in den Bekleidungsfabriken in Sri Lanka und Indien

  • Lesedauer: 4 Min.
Meghna Sukumar ist seit vier Jahren aktives Mitglied der indischen Textilarbeiterinnengewerkschaft GFWU / NTUI. Die studierte Sozialarbeiterin stammt aus der sechstgrößten Stadt Indiens, dem südindischen Chennai. Anton Markus ist Generalsekretär der Gewerkschaft der Arbeiter und Arbeiterinnen in den Freihandelszonen in Sri Lanka. Mit den Gewerkschaftern sprach nd-Redakteur Jörg Meyer.

nd: Herr Markus, Sie sagen, die Arbeitsbedingungen haben sich in den letzten zehn Jahren verschlechtert. Ich dachte, die Gewerkschaften in der Bekleidungsbranche hätten an Kraft gewonnen. Liege ich komplett falsch?

Anton Markus: Die Gewerkschaften werden stärker. Aber wir sind noch nicht in der Position, Arbeitgeber und Regierungen herauszufordern. Die Freihandelspolitik führt dazu, dass sie sehr eng zusammenarbeiten. Wo es früher die Tripartheit gab, das Zusammenwirken von Staat, Arbeitgebern und Gewerkschaften, ist es nur noch eine Bipartheit. Der Organisierungsgrad in Sri Lanka liegt bei unter zehn Prozent.

Meghna Sukumar: In Indien sind nur fünf Prozent der Arbeiter und Arbeiterinnen in der Bekleidungsindustrie organisiert. Die unabhängigen Gewerkschaften, wie unsere, versuchen, oft als einzige in der Branche etwas zu erreichen, weil die parteinahen Gewerkschaften die Branche oft für unorganisierbar halten. Ich denke, wir werden auch in Indien stärker und gewinnen an Einfluss. Aber wir sehen auch sich verschlechternde Arbeitsbedingungen und immer mehr Arbeitsplätze, die im informellen Sektor entstehen.

Wie ist das Verhältnis von formeller und informeller Arbeit?

Sukumar: Es gibt große Fabriken mit mehreren Tausend Arbeitern in den Freihandelszonen, aber es gibt auch kleine Subunternehmen, das macht es für uns oft schwer, die ganze Wertschöpfungskette nachzuzeichnen.

Sehen Regierung und Arbeitgeber Sie als Verhandlungspartner?

Sukumar: Absolut nicht! Die unabhängigen Gewerkschaften werden auf keiner Regierungsebene anerkannt. Beispielsweise: In der Mindestlohnkommission sitzt in der Regel die Regierungspartei und dominiert das Gremium.

Markus: Wegen unserer Aktivitäten, besonders wegen unserer internationalen Beziehungen zu anderen Gewerkschaften, müssen sie mit uns reden. Das passt ihnen ganz und gar nicht. Den gepriesenen Sozialen Dialog gibt es jedoch nicht. Die unabhängigen Gewerkschaften werden als Sozialpartner nicht anerkannt, manchmal sogar als »Terroristen« bezeichnet. Die parteinahen Gewerkschaften werden vorgezogen, weil sie machen, was die Parteien wollen.

Wer sind die Frauen in den Bekleidungsfabriken?

Sukumar: Viele beginnen nach der zehnten Klasse dort zu arbeiten. Sie sind meist zwischen 17 und 23. Viele Unternehmen weigern sich, verheiratete oder ältere Frauen einzustellen. Die könnten wegen zu viele freie Tage nehmen wollen. Die älteren Arbeiterinnen sind meist alleinerziehend. Viele sind ungelernt, viele Analphabetinnen.

Markus: In Sri Lanka versuchen die Unternehmer alles, um die Leute in den Fabriken zu halten. Wir haben 30 000 freie Stellen. Die Leute gehen mittlerweile lieber in den Mittleren Osten als in die Fabrik und arbeiten dort unter fürchterlichen Bedingungen als Haushaltshilfe. Wenn eine ältere Arbeiterin eine junge anwirbt für die Fabrik, bekommt sie mehr Geld.

Für eine Gewerkschaft ist das doch eine gute Ausgangssituation, wenn die Arbeitskraft knapp ist.

Markus: Das stimmt, aber wir können die Situation nicht nutzen, weil noch zu Wenige in der Gewerkschaft organisiert sind, und ohne Organisierung läuft es nicht.

Wie werden denn neue Fabriken organisiert?

Sukumar: Wir müssen sehr klandestin arbeiten. Vieles läuft in den Wohnheimen und Ortschaften. Wir behandeln dort Themen, die weniger konfrontativ sind und nicht direkt mit ihrem Arbeitsplatz zu tun haben. Beispielsweise Mindestlohn, der jeden etwas angeht, oder Sozialversicherung. Durch diese Gespräche werden sich die Menschen ihrer Situation bewusster. Dann beginnen sie auch, die Probleme an ihrem eigenen Arbeitsplatz anzusprechen, wie Unfälle oder sexuelle Übergriffe. Das ist ein schlimmes Problem.

Wenn ein Frau einen Übergriff anzeigt, kann es sein, dass sie gefeuert wird. Das ist schon oft vorgekommen. Die Arbeiterinnen sind zu 80 Prozent Frauen, die Vorarbeiter und die Manager alles Männer.

Markus: Es gibt Gesetze dagegen, die werden aber wie auch die Arbeitsgesetze nicht durchgesetzt.

Sukumar: Naja, und wenn die Managements herausfinden, dass wir in der Fabrik aktiv sind, reicht ihr Repertoire von körperlichen Angriffen über falsche Anschuldigungen bis hin zu Kündigungen.

Markus: Bei uns ist es ähnlich. Außerdem gibt es schwarze Listen. Wer gewerkschaftlich aktiv ist und darum rausfliegt, hat große Probleme in der Freihandelszone einen neuen Job zu finden. Das ist absolut illegal, aber sie machen das ganz offen.

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