Das zweite Leben

  • Steffi Schweizer
  • Lesedauer: 10 Min.
Jutta Deutschland: Sie war Undine und Giselle, Aurora und Odette und Berlins jüngste Primaballerina. Heute leitet sie ihre eigene COMPaGNIE und stellt jetzt in Rheinsberg ein neues Ballett vor.
Die Finger trommeln aufs Lenkrad, immer wieder geht der Blick zur Uhr. Berufsverkehr in Berlin. Die Frau hat es eilig, von der Probe in ihrem Studio nach Hause zu kommen. Unspektakulärer Alltag einer Primaballerina, die Jeans und Pullover trägt. Über 20 Jahre tanzte sie an der Komischen Oper. Die Meisterschülerin des Chefchoreografen Tom Schilling war ständiger Gast an der Staatsoper Unter den Linden und fühlte sich auf großen Bühnen dieser Welt zu Hause. Fernsehauftritte bescherten ihr landesweite Popularität. Doch die aktive Zeit einer Tänzerin ist kurz. Mit der Wende und nach der Geburt ihrer Tochter begann das zweite Leben der Jutta Deutschland als Prinzipalin und Unternehmerin. Vor drei Jahren gründete die 44-Jährige die BALLETT COMPaGNIE DEUTSCHLAND, kurz: BCD. Aus der Tänzerin ist eine Managerin geworden, die in einer Stadt mit rigidem Sparkurs anspruchsvolles Ballett zu etablieren versucht.
Das Büro der BCD im Haus am Köllnischen Park von Berlin-Mitte ist in diesen Tagen oft verwaist. Die Chefin läuft von einer Beratung zur nächsten, kümmert sich um Sponsoren, Internetpräsentation, Plakate. Sie flicht ihr »Netzwerk«. Die Uhr läuft. Um zwölf will sie zur Probe. »Ich habe es lernen müssen, Schwerpunkte zu setzen und Ziele genau abzustecken«, sagt sie. DISZIPLIN und ZEIT sind zwei Wörter, die sie von Kindheit an begleiteten.

Ins Kissen geheult
Jutta-Angelika Deutschland - wie der korrekte Name der dunkelhaarigen Frau lautet - wurde 1958 in Bad Freienwalde geboren. Das dritte Kind der Familie, ein Nachzügler, erwies sich als äußerst agil und ungestüm. »Lederhosen, immer auf den Bäumen, damals mehr Junge als Mädchen...«, erinnert sich ihre Schwester Ingrid Schulz aus Bad Freienwalde. Um Bewegungsenergie in Bahnen zu lenken, kaufte die Mutter dem Kind Rollschuhe. Damit ging die Siebenjährige zu einer Asphaltstraße vor dem Kurtheater, in dem das Kinderballett der Stadt sein Domizil hatte.
Als Entdeckerin des großen Ausnahmetalents darf man wohl die damalige Leiterin der Tanzgruppe, Dagmar Krüger, sehen. Eine zweite wichtige Rolle nimmt Ursel Berndt ein, die die Elevin an der Staatlichen Ballettschule Berlin trainierte. Wenn auch die Aufnahme zuerst auf Grund einer Vier in Betragen zu scheitern drohte, wurde die Schule von 1968 für sieben Jahre die Ausbildungsstätte, an der Jutta Deutschland den Grundstein für ihre Erfolge legte. »Manchmal habe ich vor Heimweh ins Kissen geheult«, bekennt sie rückblickend, »aber diese Schule war mein großes Glück.« Ursel Berndt wählte Jutta Deutschland, Steffi Scherzer und Angela Philipp aus einer Gruppe von 41 Schülern aus und förderte sie in einer Leistungsklasse. Da waren die Mädchen 14 Jahre alt, und die Lehrer hatten verordnet, Jungen und Liebeskummer sind tabu. Als sie 1975 die Schule verließen, hatten sie neben dem Rüstzeug für ihre Karriere auch den Abschluss der 10. Klasse und ein Fachschuldiplom als Bühnentänzerin in der Tasche. Zweien von ihnen verlieh man später den Titel Primaballerina. Ihn behält man auf Lebenszeit. Alles andere wird nicht mehr anerkannt. »Wer heute aus einem festen Engagement herausrutscht, ist im Arbeitsamt nicht mehr einzuordnen und gilt als ungelernt«, erklärt sie. Jutta Deutschland spricht jetzt ganz schnell. In ihrer Stimme schwingt ein seltsamer Ton. Als Prinzipalin erlebt sie täglich, dass arbeitslose und oft genug entmutigte Tänzer an ihre Bürotür klopfen. »Die COMPaGNIE besteht aus freischaffenden Tänzern, die sich mögen, die etwas lernen und wieder ein Zuhause gefunden haben«, erklärt sie. »Künstler brauchen das. Aber sie verdienen erst mal sehr wenig Geld.«

Eine Art Hassliebe
1976 begann an der Komischen Oper die Ära Schilling-Deutschland. In dem gestandenen Choreografen fand die blutjunge Tänzerin ihren Meister. Schon bald gab sie in »Die schlechtbehütete Tochter« ihr solistisches Debüt. Das enge schöpferische Verhältnis brachte Leistungen von Weltruf hervor: Erst 25-jährig, verkörperte die Solotänzerin die Figur der reifen, eleganten Charlotte in der Ballettversion von Goethes Wahlverwandtschaften und überzeugte danach als 14-jähriges Mädchen in »Romeo und Julia«. In »Hoffmanns Erzählungen« tanzte sie an einem Abend vier Hauptrollen. Legendär war ihre Spannweite beim Sprung: von Fußspitze zu Fußspitze 1.80 Meter! Tagtäglich im Ballettsaal, jahrein, jahraus, ungezählte Stunden. Hat sie ihren Choreographen verehrt, geliebt, gehasst? »Alles auf einmal! Uns verband eine Art Hassliebe.« Das trieb die Spirale der Forderungen immer höher. Als Schilling 1994 das Haus verließ, ging auch die Tänzerin. »Das war der Einschnitt, wo ich künstlerisch keine Nahrung mehr bekam. Und wenn man 37 Jahre alt ist...«
Es gehört zu ihren schmerzvollsten Erfahrungen, so sagt sie, erlebt zu haben, »dass man als Tänzerpersönlichkeit nicht mehr gefragt war«. Unter Protest verließ sie das Tanztheater in der Berliner Behrenstrasse, dessen Stern mit dem Weggang von Schilling abrupt zu sinken begann. Ab 1997 tanzte Jutta Deutschland freiberuflich und gab Unterricht. »In dieser Zeit suchte ich gedanklich Klarheit. Ich wusste immer, dass es die COMPaGNIE geben wird, hatte aber weder Räumlichkeiten noch die eigene Befähigung. Also musste ich mich auf die Schulbank setzen.«
Das Schlüsselwort hieß Betriebswirtschaft. Das war der Oberbegriff. Unterbegriffe hießen Studio, Quadratmeterpreise, Umbau, Kapital, Marketing, Buchhaltung. Die zweite schmerzliche Erfahrung: in Geschäftsbeziehungen betrogen zu werden. Ihre dunklen Augen blicken ernst. In den ersten Monaten lief die Leiterin des neuen Unternehmens der Illusion hinterher, für alles zuständig zu sein. Urlaub - Fehlanzeige! Gesundheit - später! Die Frau von 1,70 Meter wog nur noch 41 Kilo. Und machte weiter. Sie brauchte Aufträge und Erfolge. Irgendwann verweigerte ihr der Körper, den sie »immer nur ausgebeutet« hatte, den Dienst. Sie sah ein, man muss sich auch hier disziplinieren, und konzentrierte sich ausschließlich auf die COMPaGNIE.

»leben ist schön«
Vorläufiger Höhepunkt im zweiten Leben der Jutta Deutschland: Am 1. März diesen Jahres stellte sie als künstlerische Leiterin ihr erstes Handlungsballett unter dem Titel »leben ist schön« vor; mit 100000 Euro vom Hauptstadtkulturfonds gefördert. Die Musik der einstündigen Produktion basierte auf Motiven der Leningrader Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch. Für diese Arbeit verpflichtete Jutta Deutschland den russischen Choreografen Evgeni Panfilov aus Perm.
Die fünf Vorstellungen im Berliner TEMPODROM sahen nur wenig mehr als 1000 Zuschauer. Die Ränge blieben Abend für Abend fast zur Hälfte leer. Doch Jutta Deutschland spricht von einem »großen Erfolg«. Es gab viel Beifall, und die, die gekommen waren, verließen die Vorstellung tief bewegt. Zuschauer aus der Generation, die noch eigene Kriegserinnerungen bewahrt, schlichen nicht selten mit Tränen in den Augen still zum Ausgang und kamen am nächsten Tag mit ihren Enkelkindern wieder. Blockade, Krieg, Tod - ein sperriges Thema. »Ein politisch geprägtes Ballett hat es immer schwer«, schätzt sie realistisch ein. Die Stadt mit ihrem reichhaltigen Kulturangebot und ihrer totalen Reizüberflutung mache es einer freien Truppe schwer, überhaupt wahrgenommen zu werden. Dass man dennoch über das Ballett vergleichsweise viel gehört und gelesen hat, verdankt es sicher dem immer noch prominenten Namen der Deutschland.
Andere Insider wiederum warteten im März gespannt auf Panfilovs ungewöhnliche Choreografie. Sie hätten also ein starkes Team abgeben können: die Deutschland und der Russe Panfilov. Doch interne Querelen überschatteten bald die Atmosphäre. Jede Vorstellung endete mit einem gemeinsamen Walzer von Tänzern und Zuschauern. Panfilov eröffnete den Reigen. Nie forderte er seine Gastgeberin auf. Nie würdigte er sie auch nur eines Blickes. Während das Publikum ihren Namen rief, übersah er sie einfach. Deutlicher konnte ein öffentlicher Affront kaum sein. Das allein habe sie eigentlich weniger gestört, sagt sie leise. »Es war so ein großes Thema, so ein toller Beginn. Eine große Chance! Alle waren mit Engagement dabei. Auseinandersetzungen sind doch auch ganz normal. Ich wünschte sie mir nur auf kreativem Gebiet.«
Es ging um Verwertungsrechte und Honorare, war damals in einem Zeitungsbericht zu lesen. Mehr will Jutta Deutschland dazu nicht sagen. Auch angesichts des tragischen Todes von Panfilov vor einigen Wochen, von dem die COMPaGNIE »tief erschüttert« erfahren habe. Die internationale Fachzeitschrift »ballet - tanz« schreibt, er sei am 13. Juli in seinem Haus in Perm aufgefunden worden, ermordet durch sechs Messerstiche, und wurde unter Anteilnahme der ganzen Stadt zu Prokofjev-Musik zu Grabe getragen. Die BCD kümmert sich nach wie vor um Gelder für eine Wiederaufführung. »"leben ist schön" war Panfilovs letzte Arbeit«, sagt Jutta Deutschland. »Und es war eine sehr gute.«

Der Zopf ist ab
Rheinsberg im Oktober. Schloss, Park, See und Theater bilden eine malerische Kulisse. Hier residierte Prinz Heinrich. Der jüngere Bruder von Friedrich II. galt als Förderer der Künste, als Diplomat und Gefühlsmensch. Sein Leben zwischen Intrigen, Krieg und verwirrenden Beziehungen bringt die BCD anlässlich des 200. Todestages in einem Kammerballett auf die Bühne. »Der vergessene Prinz« - Gelegenheit, neu Anlauf zu nehmen.
Auch der Zopf ist ab. Mit moderner Kurzhaarfrisur, flachen Schuhen und kleiner Brille wirkt Jutta Deutschland sachlich, fast streng. Angespannt steht sie im Probensaal vor der großen Spiegelwand und geht mit jeder Bewegung ihrer sieben Tänzerinnen und Tänzer mit. Die Choreografie des neuen Stückes haben Mischa Ognewski und Uwe Czebulla, die auch die Hauptrollen tanzen, erarbeitet. Ihre erste größere choreografische Arbeit. Wie aber entsteht aus Idee, Szenario, Musik und Bewegung Kunst? Wie entwickeln sich aus Schritten und Fantasie Körperbilder, die von den Zuschauern nicht nur verstanden werden, sondern sie ergreifen? Dieser Prozess ist im Gange.
»Stopp, stopp, stopp!« Die Frau unterbricht unerbittlich zum x-ten Male die Musik, man hört den schweren Atem der Tänzer, die hier Schwerstarbeit leisten. Auf den Trikots zeichnen sich dunkle Flecke ab, nasse Haarsträhnen hängen im Gesicht. Jutta Deutschland geht zur Gruppe, demonstriert, korrigiert - wieder und wieder. Ein Augenaufschlag, ein Lächeln, der andere hat verstanden. »Die tänzerische Qualität muss meinem Anspruch und meinem Namen gerecht werden,« fordert sie selbstbewusst. Die beiden jungen Choreografen vertrauen ihrem Urteil. Sie sehen die große Chance. Uwe Czebulla sagt: »Wir haben zu zweit ein Skelett geschaffen und erwecken es jetzt zu dritt zum Leben.« Mischa Ognewski ergänzt: »Jutta führt uns zu einem Horizont, den wir noch gar nicht erkannt hatten.« Die Truppe ist euphorisiert, im Arbeitsrausch. Auch dank der guten Arbeitsbedingungen der Musikakademie Rheinsberg.
Wer in seinem Beruf auf Öffentlichkeit angewiesen ist, sucht irgendwann im Privaten Abgeschiedenheit. Anfang der 90er Jahre zog die Deutschland von der Innenstadt Berlins ins Grüne. Die grazile Frau steigt aus dem Auto, öffnet das breite Tor zur Einfahrt und parkt den kleinen VW-Lupo vor dem Haus. Der Knall, mit dem sie die Autotür nach der staugeplagten Fahrt zuwirft, klingt wie ein Schlusspunkt hinter dem anstrengenden Tag. Durchatmen!
Hier in Bruchmühle bei Altlandsberg im Land Brandenburg ist sie zu Hause. »Wenn Zeit zum Leben ist, soll auch ein Kind kommen«, hatte eine Journalistin 1987 über die Deutschland geschrieben. Wann ist Zeit zu leben? Die Wende brachte Unwägbarkeiten, die biologische Uhr tickte. 1993 kam Ellinor zur Welt. Sobald Jutta Deutschland die Tür öffnet, kommt das Mädchen angerannt. Die Neunjährige reicht der Mutter ihre neueste Zeichnung. Beide ziehen sich flüsternd zurück. Vater und Ehemann Peter Vogel weiß, jetzt ist er »abgemeldet«. Der Fernsehregisseur der ARD-Serie »In aller Freundschaft« geht in die Küche, kümmert sich schweigend um das Abendessen für die Familie und stellt dem Hund das Futter hin. Es war 1987, als er einen Film über die Tänzerin Oda Schottmüller vorbereitete und der 20 Jahre jüngeren Frau die Hauptrolle anbot. Was hat ihn an ihr fasziniert? Peter Vogel lässt sich Zeit. Über Gefühle mag er wohl nicht sprechen: »Ihre Genauigkeit bei dieser schweren Arbeit. Ich habe aufgeschaut zu einer Frau, die 20 Jahre jünger ist als ich.«
Die Existenzsorgen und Zukunftsängste der letzten Jahre haben sie gemeinsam durchgestanden. Jutta Deutschland hat ihr Lehrgeld gezahlt. Sie ist auf dem Weg.

Der vergessene Prinz: Sa., 05.10., um 19.30 Uhr und So., 06.10., um 15.00 Uhr im Schlosstheater Rheinsberg (Restkarten nur noch für Sonntag unter Telefon: 030 - 479 974 74)
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