Genosse Shukow verließ den Saal«, vermerkt lapidar das offizielle Protokoll der Tagung des Zentralkomitees der KPdSU vom 28./29. Oktober 1957. Das war das Ende einer »politischen Jagd«, die der Erste Sekretär, Nikita Chrustschow, gegen Georgi Shukow, Mitglied des Präsidiums des ZK und Verteidigungsminister der UdSSR, inszeniert hatte, weil er seinen mächtigen »Retter« und vermeintlichen Konkurrenten um die Allmacht in der Partei und im Staat loswerden wollte. 1957 war zweifellos der Höhepunkt im politischen Aufstieg des ehrgeizigen Georgi Konstantinowitsch Shukow (1896-1974), der - seit 1918 in der Roten Armee, seit 1919 Parteimitglied - eine glanzvolle Karriere während des Großen Vaterländischen Krieges erlebte. Er hatte als Chef bzw. Mitglied des Generalstabes, Erster Stellvertreter des Oberkommandierenden Stalin und Erster Stellvertreter des Volkskommissars für Verteidigung, als Befehlshaber von Armeen und Fronten herausragenden Anteil an der Ausarbeitung der sowjetischen Kriegsführung, d.h. an deren Erfolgen und Niederlagen, wobei letztere zumeist aus dem Blickfeld gerieten. Im Januar 1943 wurde Shukow - nicht Stalin! - als erstem im Krieg der Marschalltitel zuerkannt.
Nach dem Sieg fiel der den Ruhm Stalins gefährdende Marschall zunächst in Ungnade. Er wurde in die »Provinz« abgeschoben - als Befehlshaber des Militärbezirks Odessa, dann des Urals. Mit Stalins Tod am 5. März 1953 begann sein Comeback. Er wurde nach Moskau zurückgerufen, war maßgeblich an der Ausschaltung Berijas im Juni 1953 beteiligt und wurde zwei Jahre darauf Verteidigungsminister der UdSSR. Shukow nahm aktiv am Prozess der Destalinisierung der Sowjetgesellschaft nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 teil und war dabei in den intriganten Machtkampf im Präsidium des ZK verwickelt, der sich im Juni 1957 dramatisch zuspitzte. Shukow stellte sich entschieden auf die Seite Chrustschows. Sieben Tage (22.-29. Juni) erörterte ein Plenum des ZK die Lage. Dem waren an vier Tagen bewegte Auseinandersetzungen im Präsidium vorausgegangen. Eine Mehrheit um Molotow, Malenkow und Kaganowitsch hatte Chrustschow als Ersten Sekretär abgesetzt, musste jedoch die Zustimmung des ZK einholen. Auf der Tagung gelang es Chrustschow, den Spieß umzudrehen und die Genannten als »parteifeindliche Gruppe« aus der Parteiführung zu eliminieren - dank auch Shukows. Dieser hatte dem Präsidium unzweideutig erklärt, notfalls die Armee zur Unterstützung Chrustschows einzusetzen. Er trat auf der Tagung faktisch als Koreferent zum ZK-Redner Suslow mit schwersten Verbrechensanschuldigungen gegen die drei Genannten auf und nahm vielfach das Wort zu Repliken, wie es üblicher Weise nur dem »Ersten« zustand. Das war zu viel! Die starke Position Shukows - er rückte ins Präsidium auf - beunruhigte nun die Parteiführung, vor allem den machtambitionierten »Ersten«. Dieser vergaß sehr schnell das »viele Menschliche«, das ihn mit seinem »Retter« verband - noch im August hatten sie gemeinsam Urlaub auf der Krim verbracht.
Doch es war nicht so einfach, den im Volk hochangesehenen Marschall in seiner Macht zu beschneiden und aus dem Wege zu räumen. Eine zunächst »verdeckte« Aktion begann. Schon im offiziellen Stenogramm des Juni-Plenums wurden alle Stellen über die herausragende Rolle Shukows »geglättet«. Im August beschloss das Präsidium des ZK, den Verteidigungsminister im Oktober zu einem offiziellen Besuch nach Jugoslawien und Albanien zu entsenden. Kurz vor seiner »herzlichen« Verabschiedung am 4. Oktober fanden in der Ukraine große Militärmanöver statt. Chrustschow nutzte seine Teilnahme, um bei den hohen Militärs zu sondieren und sie gegen Shukow einzunehmen. Dieser war kaum außer Landes, da erschien der Leiter der Politischen Hauptverwaltung der Streitkräfte, Sheltow, im ZK bei Breshnew und Chrustschow, um sich über den Verteidigungsminister zu beschweren, der keine »besondere Aufmerksamkeit« den Politmitarbeitern und der parteipolitischen Arbeit in den Streitkräften zeige. Sheltow wurde zum Kronzeugen gegen seinen Vorgesetzten. Am 17. Oktober beschäftigte sich das Präsidium des ZK mit der Lage. Schon zwei Tage darauf nahm es den Entwurf eines ZK-Beschlusses »über die Verbesserung der parteipolitischen Arbeit in der Sowjetarmee und Flotte« an. Nun fanden in 14 Militärbezirken Beratungen der Parteiaktive statt. Die Beratung in Moskau vom 22./23. Oktober wurde in Anwesenheit der ZK-Präsidiumsmitglieder - nur Shukow fehlte - und der höchsten Militärs zu einer Generalprobe, die zur Zufriedenheit der Parteispitze ausfiel. Am 25. Oktober beschloss sie die Einberufung einer ZK-Tagung für den 28. Oktober.
Als Shukow nach Moskau zurückkehrte, wurde er sogleich zu einer Präsidiumssitzung in den Kreml beordert und dort mit heftigen Anschuldigungen über angebliche schwere Verfehlungen konfrontiert. Der Marschall war schockiert. Er rief später Chrustschow an, erinnerte an ihre Freundschaft, an seine Hilfe im Juni 1953. Auf seine Frage, warum es vor seiner Abreise seitens des Präsidiums keinerlei Forderungen an ihn gegeben habe, aber jetzt solch schwere Beschuldigungen erhoben würden, antwortete Chrustschow: »Komm zum Plenum, dort wirst du alles erfahren.«
Shukow erfuhr, er habe versucht, die Streitkräfte der Partei zu entziehen, sich Funktionen des ZK anzueignen und in den Händen des Ministeriums für Verteidigung eine unbegrenzte Machtfülle mit dem Ziel zu konzentrieren, eine Diktatur zu errichten; er habe in der Armee einen Kult um seine Person geschaffen, einen harten und groben Führungsstil ausgeübt u.a.m. Auch seine Leistungen im Krieg wurden angezweifelt. Shukow erkannte in diesem »Gerichtsverfahren« entsprechend dem nach wie vor gültigen stalinistischen Ritual die Kritik als »im Wesentlichen richtig« an, legte aber kein demütiges Geständnis ab.
Die Militärs stellten 60 Prozent der Diskussionsredner auf jener Tagung; den Marschall traf es hart, dass keiner die Stimme zu seiner Entlastung erhob. Alle folgten der vorgegebenen Linie und unterstellten ihm, ohne jegliche »Beweise«, die Vorbereitung einer Militärverschwörung. Shukow wurde aus dem Präsidium und dem ZK ausgeschlossen, als Verteidigungsminister entlassen und aus der Armee ausgestoßen.
Der Marschall sah sich schon als »politischen Leichnam«. Doch er überlebte. Er schrieb seine Memoiren »Erinnerungen und Gedanken«. Sie erschienen nach langen Auseinandersetzungen 1969 in hoher Auflage und wurden in viele Sprachen übersetzt. Später bekannte der Autor, dass sie »zur Hälfte nicht von ihm« waren. Von der Partei beauftragte »Bearbeiter redigierten«, strichen kritische Sujets und schrieben ganze Passagen neu. Zu Recht meinte der angesehene Militärhistoriker Pawlenko, dass »kein Memoirenwerk solchen konjunkturellen Schwankungen unterlag« wie diese Erinnerungen.
In den 70er Jahren setzte eine »Rehabilitierung« des Marschalls ein, die sich über die »Perestroika« hinaus in den 90er Jahren vollzog. 1995 wurde anlässlich des 50. Jahrestages des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg vor dem Historischen Museum in der Nähe des Roten Platzes in Moskau ein majestätisches Shukow-Denkmal (Reiterstandbild) eingeweiht.
Noch heute gehen die Ansichten über Georgi Shukow weit auseinander - die Urteile schwanken vom »großen Strategen des 20. Jahrhunderts mit einmaliger Feldherrenkunst« bis zum »ungebildeten, aufbrausenden Befehlshaber, der über Leichen ging«. Sein Ansehen als »Marschall des Sieges« jedoch dominiert. Zu Recht sehen viele Deutsche in ihm den Heerführer, der wesentlichen Anteil an der Befreiung vom Naziregime hatte.
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