Neue Windungen der Eskalationsspirale

Nach Gefechten zwischen Indien und Pakistan wächst die Gefahr eines Krieges beständig

  • Thomas Berger
  • Lesedauer: 4 Min.
Indien betrachtet seine »Operation Sindoor« als Maßnahme, um einen pakistanischen Angriff zu verhindern.
Indien betrachtet seine »Operation Sindoor« als Maßnahme, um einen pakistanischen Angriff zu verhindern.

Als am 22. April Mitglieder einer bisher kaum bekannten Terrorgruppe im indischen Teil Kaschmirs 26 Touristen ermordeten, war klar, dass der Vorfall nicht folgenlos bleiben würde. Dass nun sogar ein offener neuer Krieg der beiden Atommächte Indien und Pakistan droht, mochte sich vor gut zwei Wochen aber noch kaum jemand ernsthaft vorstellen.

Nach zwei Etappen von Luftangriffen sind die Appelle von verschiedensten Seiten an die Regierenden in Delhi und Islamabad, bei der Eskalation doch noch auf die Bremse zu treten, inzwischen eindringlicher denn je. Irans Außenminister Seyed Abbas Aragchi versuchte schon zu vermitteln, selbst US-Präsident Trump sah sich zu einem Statement gravierender Besorgnis genötigt, wenngleich sein Vize JD Vance ein direktes Eingreifen ausschloss. Geholfen hat all das bisher nicht, ebenso wenig wie neue Appelle der UN.

Furcht vor Angriffen auf beiden Seiten

Für mindestens zwei Tage einschließlich Samstag wurden zuletzt in der pakistanischen Provinz Punjab und der Hauptstadt Islamabad alle Schulen geschlossen. Zu groß ist die Sorge vor erneuten indischen Luftschlägen, die zivile Ziele treffen könnten. Umgekehrt wurden nicht nur in der indischen Hauptstadt Katastrophenschutzübungen durchgeführt, um bei pakistanischen Angriffen vorbereitet zu sein.

Entlang der Line of Control (LoC), die seit Jahrzehnten als Waffenstillstandslinie den indischen vom pakistanisch kontrollierten Teil Kaschmirs trennt, wurden die Bewohner etlicher Grenzdörfer evakuiert. Andere Menschen verließen ihre Heimatorte mehr oder minder freiwillig aus Sorge um die eigene Unversehrtheit. Aber auch entlang der internationalen Grenze zwischen den beiden Atommächten geht zunehmend die Angst um.

Indien spricht von Präventivschlag gegen Pakistan

Indien habe mit einem Präventivschlag einen angeblich geplanten größeren Angriff der Pakistaner unterbunden, lautete am Donnerstag in Delhi die Rechtfertigung für die in der Nacht zuvor erfolgte zweite Etappe der »Operation Sindoor«, auf Hindi benannt nach einem zinnoberroten Farbstoff. Primäre Ziele sollen diesmal offenbar Stellungen der pakistanischen Luftabwehr weiter landeinwärts gewesen sein, eine Einrichtung dieser Art am Rande der zweitgrößten Metropole Lahore wurde mutmaßlich schwer getroffen.

Solche Einzelheiten im noch limitierten militärischen Schlagabtausch der letzten paar Tage sind auf die Schnelle schwer unabhängig zu überprüfen. Ebenso wie die Behauptung des pakistanischen Armeesprechers Ahmed Sharif Chaudhry, die funktionsfähigen Luftabwehr-Einheiten hätten 12, 25 oder gar 29 indische Drohnen abgeschossen.

Gerüchte um ausländische Waffen

Umgekehrt ist in Indien davon die Rede, man habe bei einem Dorf außerhalb der Großstadt Amritsar im Punjab Überreste einer feindlichen Rakete gefunden und mindestens einen pakistanischen Kampfjet vom Himmel geholt. Während es sich bei den Drohnen um ein israelisches Produkt vom Typ Harop handelt, produziert von einer Tochter der Israel Aerospace Industries (IAI), sollte das abgeschossene Kampfflugzeug laut zwischenzeitlich kursierenden Meldungen ein aus China stammendes Modell sein, was später dementiert wurde. Solche Spekulationen zeigen, wie unzuverlässig manche Informationen sind und wie groß das Interesse bestimmter Kreise auf beiden Seiten, aus bestimmten Aspekten noch propagandistisch Vorteile zu ziehen.

Was noch glauben, wenn Scharfmacher immer lauter ihre Stimme erheben und selbst eher moderate Kräfte so weit sind, offen mit »Vergeltung« zu drohen? Darunter Pakistans Premier Shehbaz Sharif, der sich mit eigenen Äußerungen zurückhielt, als an den Vortagen Kabinettsmitglieder wie der Eisenbahnminister Indien schon offen mit einem möglichen Einsatz der 130 Atomsprengköpfe drohten und auch Ex-Außenminister Bilawal Bhutto, Chef der rechts-sozialdemokratischen Pakistanischen Volkspartei (PPP), verbal kaum minder schwere Geschütze auffuhr. Shehbaz klang da wohl noch die Warnung seines älteren Bruders Nawaz im Ohr: Der dreifache Ex-Premier hatte dem Jüngeren bereits am 26. April klar abgeraten, sich offen mit dem größeren Nachbarn anzulegen.

Indien betrachte seine Luftangriffe als legitime Antwort auf die Bluttat im idyllischen Ferienort Pahalgam, dessen Name seither um die Welt ging, betonte Außenminister Subrahmanyam Jaishankar. Neun Trainingscamps von drei radikalislamischen Gruppen jenseits der LoC und direkt auf pakistanischem Boden seien zerstört und 100 Terroristen getötet worden, so Verteidigungsminister Rajnath Singh am Donnerstag bei einem Allparteientreffen, um die politische Elite einschließlich Opposition zum Erfolg der »Operation Sindoor« zu briefen.

Pakistans Führung sprach von bisher mindestens 31 zivilen Opfern. Gegenangriffe in der Nacht zu Freitag schlug Indien zurück.

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