Gab es das sozialistische Dorf?

Alltag in Merxleben - eine bemerkenswerte volkskundliche Studie

  • Rosi Blaschke
  • Lesedauer: 4 Min.
Das Leben auf dem Dorfe, der Alltag auf dem Lande gestern und heute vornehmlich in Ostdeutschland ist gegenwärtig ein marginales Problem für viele Menschen. Was hat sich wirklich getan im Dorf der DDR? Warum bestehen noch heute Genossenschaften? Von wem und wie wurden und werden die Lebensumstände im Dorf geprägt? Hier tut sich ein weites, seit der Wende nur teilweise beackertes Feld für die Wissenschaft auf. Eine, die sich kühn an dessen Bearbeitung gewagt hat, ist Dr. Barbara Schier, Volkskundlerin an der Universität München. Sie legte eine umfangreiche, fundierte volkskundliche Studie »Alltagsleben im "sozialistischen Dorf". Merxleben und seine LPG im Spannungsfeld der SED-Agrarpolitik 1945 bis 1990« vor, die neue Erkenntnisse über die DDR-Landwirtschaft vermittelt und auch zu Widerspruch herausfordert, die lebendig geschrieben und klar gegliedert ist. Die Wissenschaftlerin hat sich auf das Dorf Merxleben im Thüringischen, in dem im Juni 1952 die erste LPG der DDR gegründet wurde, konzentriert und von 1991 bis 1996 zahlreiche Bewohner befragt, Materialien des Dorfes, des Kreises, der SED-Parteiarchive aufgearbeitet sowie soziologische Studien aus DDR-Zeiten herangezogen. Es ist ein Segen, dass sich eine Westdeutsche im besten Sinne neugierig im ostdeutschen Dorf umsah, aber auch ein Nachteil, dass sie die vielen Facetten der Entwicklung in 40 Jahren DDR nicht erlebte. Merxleben ist ein Bauerndorf, einst anders als die Orte in Mecklenburg oder Brandenburg kaum vom Gutsbesitzer geprägt. Das 140-Hektar-Gut der Grabaus und die 20 Hektar des Ortsbauernführers Schuchard wurden durch die Bodenreform enteignet und an 35 landlose und landarme Familien, zum Teil Umsiedler und Flüchtlinge, verteilt. Ehemalige Landarbeiter urteilen heute über die Gutsbesitzer: »Das waren feine Leute!« Barbara Schier verweist auf den Widerspruch zu anderen Aussagen über einen 16-Stunden-Arbeitstag und 18 Pfennig Stundenlohn auf dem Gut. Von Anfang an wurde, das beweisen die Umfragen, den kleinen und Neubauern Hilfe von den alteingesessenen Groß- und Mittelbauern versagt. So ist es kein Wunder, dass die Neubauern sich zu helfen wussten und schon 1950 in Eigeninitiative eine Ablieferungsgemeinschaft gründeten, die jedoch wieder aufgelöst werden musste. Dieses Gemeinschaftsdenken machte sich später im Vorfeld der II. Parteikonferenz die SED-Führung zu Nutze und propagierte, »die Zeit ist reif« für die Bildung von LPG. Merxleben hatte also wie all die anderen Pioniere Einfluss auf den Gang der DDR-Geschichte. Die Gründung der ersten LPG als Zwangsmaßnahme der Partei einzuordnen, ist eine einseitige Sicht. In den 70er Jahren und später erlebte die LPG Merxleben einen wirtschaftlichen und sozialen Aufschwung - mit bemerkenswerten Produktionssteigerungen und Sozialleistungen, wie auch die Studie zeigt. Dies jedoch um den Preis der Trennung von Pflanzen- und Tierproduktion und der Entfremdung vieler Bauern vom Boden. Dennoch profitierten alle Dorfbewohner davon. Natürlich war der genossenschaftliche Weg über Jahrzehnte steinig und holprig, was Schier kritisch vermerkt. Ein kleines Land versuchte, aus eigener Kraft eine neue Landwirtschaft aufzubauen, seine Bevölkerung vom eigenen Feld zu ernähren. Und wandte eben auch untaugliche Mittel an. Warum aber bestehen noch so viele Agrar-Gemeinschaften? Die Studie gibt darauf keine Antwort, kann das wohl auch nicht. Es ist oft der Unterton in der Darstellung der Dorfentwicklung durch Barbara Schier, der Widerspruch herausfordert: etwa wenn von Kindern der LPG-Bauern und der SED-Genossen die Rede ist, obwohl es doch ganz einfach um Dorfkinder geht, und wenn süffisant die freiwilligen Aufbauhelfer in Anführungsstriche gesetzt werden, »weil die Partei die Planerfüllung... befohlen hat«. Aus manch übertriebenem Wettbewerb entstand Gutes für das Dorf. Es ist eben ein Unterschied zwischen Historiographie und Erlebtem. Die Studie lebt von Interviews mit den Leuten aus dem Dorf. Sie beweisen, dass die viel propagierte »sozialistische Menschengemeinschaft« in der Wirklichkeit nicht bestand. Sie sagen viel aus über den Alltag auf dem Dorf - über die Grüppchen-Bildung, die Schwierigkeiten mit dem Handel und dem Hausbau, die Hauswirtschaft der Bauern neben der LPG, die als Freiheits-Nische bewertet wird und nur gewollter Nebenverdienst der Bauern und Versorgungssicherung für alle war. Die Interviews mit Frauen und Männern bedienen aber auch jegliche Klischees, die nach der Wende über die DDR verbreitet wurden: Jeder Dritte war ein Stasi-Spitzel; Initiative und Verbesserungsvorschläge waren nicht gefragt, wenn man nicht Parteifunktionär war; Töpfchen-Zwang für Krippenkinder; sich bereichernde »rote Barone« und »alte Seilschaften« nach 1989, obwohl die Nachfolgeeinrichtung der LPG, die Thuringia Megaplast (TMP) ehemalige LPG-Mitglieder schon abgefunden hat und alle abfinden will. Die erste LPG ging als eine der ersten 1991 in Liquidation. In Merxleben machten sich nur drei Bauern selbstständig. Andere Genossenschaften im Umkreis dagegen wirtschaften rentabel und bieten viele Arbeitsplätze. Dass Merxleben, wie auch immer, im Gedächtnis bleibt, ist ein großes Verdienst der Wissenschaftlerin.
Barbara Schier: Alltagsleben im »Sozialistischen Dorf«. Merxleben und seine LPG im Spannungsfeld der SED-Agrarpolitik 1945 bis 1990. Waxmann Verlag, München. 328S., br., 19,50 Euro
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