Parlament der Rothirsche

Britische Verhaltensforscher zeigen: »Abstimmung« unter Tieren verbessert deren Überlebenschancen

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 5 Min.
Die Demokratie gilt gemeinhin als eine der großen Errungenschaften der Menschheit. Zwar wurde ihre Urform bereits im alten Griechenland erfunden, doch erst seit der Aufklärung sehen Millionen von Menschen darin einen Vorzug des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Gleichwohl sind demokratische Entscheidungsprozesse oft mühsam und langwierig und bedürfen der Mitwirkung großer Teile der Bevölkerung. In einer Diktatur hält man von solchen Mehrheitsentscheidungen wenig. Hier bestimmen einige »Auserwählte« zum vermeintlichen Wohle aller, was in einer Gesellschaft zu geschehen hat und was nicht. »Bisher wollte niemand so recht glauben, dass auch Tiere demokratisch abstimmen können«, meint der britische Verhaltensbiologe Timothy Roper von der University of Sussex. »Man ging vielmehr davon aus, dass die meisten sozial lebenden Tiere von einem Leittier angeführt werden.« Tatsächlich herrscht in zahlreichen Tiersozietäten (so bei Ratten, Wölfen, Elefanten, Pavianen, Gorillas etc.) eine strenge Hierarchie, die nicht zuletzt dazu dient, den Sozialverband zu stabilisieren. Vor allem die ranghöchsten Männchen genießen dank ihrer körperlichen Vorzüge biologisch bedeutsame Privilegien: Sie dürfen zum Beispiel früher und mehr fressen als die anderen und werden fast immer von den Weibchen erwählt. Doch nicht in allen Lebenssituationen ist der Einfluss der ranghöheren Tiere derart übermächtig. Wie Roper und seine Kollegin Larissa Conradt im Fachblatt »Nature« (Bd. 421, S. 155ff.) berichten, werden Entscheidungen, die die ganze Gruppe betreffen, häufig auch von der Mehrheit der Gruppe gefällt. Rothirsche zum Beispiel, die in Rudeln durch die Wälder ziehen, machen regelmäßig Pausen, um sich auszuruhen und die aufgenommene Nahrung wiederzukäuen. Manche Tiere würden dabei gern etwas länger, andere nur kurz verweilen. Dennoch muss das Rudel irgendwann weiterziehen. Wer aber bestimmt, wann das geschehen soll? Die Antwort ist verblüffend: Sobald rund 60 Prozent der erwachsenen Tiere sich erhoben haben, steht auch der Rest der Gruppe auf und wandert los. Demokratische Entscheidungen sind im Tierreich offenbar keine Seltenheit, denn Tiere verfügen über vielfältige Möglichkeiten der »Stimmabgabe« - etwa durch Gesten, Bewegungen oder Laute. »Es kommt nur darauf an, dass die Signale für alle Individuen einfach zu verstehen sind«, meint Roper. Eine Gruppe von Gorillas beispielsweise beendet ihre Rast, sobald 65 Prozent der Tiere durch lautes Rufen dazu aufgefordert haben. Bei Schwänen erfolgt das mehrheitliche Votum durch heftiges Kopfnicken, wodurch der ganze Schwarm animiert wird, sich in die Lüfte zu erheben. Afrikanische Büffel besitzen die erstaunliche Fähigkeit, über die Blickrichtungen der einzelnen Tiere gleichsam zu mitteln und daraus die Richtung ihrer weiteren Marschroute abzuleiten. Und auch bei tanzenden Bienen entscheidet die Mehrheit über den Ort der Futtersuche. Wenn in so vielen Tiersozietäten demokratisch entschieden wird, verbirgt sich dahinter naturgemäß ein biologischer Vorteil. Um diesen aufzudecken, haben Conradt und Roper in einem mathematischen Modell die Kosten verglichen, die den Mitgliedern einer despotischen bzw. einer demokratischen Gruppe entstehen. In den meisten Fällen, so ergaben ihre Berechnungen, müssen despotisch geführte Tiere deutlich mehr Nachteile in Kauf nehmen als die Mitglieder einer demokratischen Gruppe. Denn die Entscheidungen eines einzelnen Tieres, selbst wenn dieses sehr erfahren ist, werden häufig von dessen eigener Befindlichkeit diktiert und nehmen auf die Bedürfnisse anderer Tiere wenig Rücksicht. Natürlich gibt es auch in einer demokratischen Gruppe »Ungerechtigkeiten«, wie das Beispiel des rastenden Hirschrudels belegt. »Wann immer das Rudel weiterzieht«, so Roper, »einige Tiere werden zu wenig Ruhe bekommen, andere unausgelastet sein.« Folglich bezahlen die ermüdeten Tiere ihre Unterordnung unter die Mehrheit mit einem Fitnessverlust. Die meisten Mitglieder der Gruppe profitieren jedoch von der Entscheidung zum Weiterziehen, da sie diese ja selbst herbeigeführt haben. Mithin scheint auch für Tiere zu gelten, was Winston Churchill für Menschen so treffend formuliert hat: »Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.« In einer homogenen Tiersozietät sind die Vorteile einer demokratischen Abstimmung für das Überleben der Individuen am größten. Das gilt selbst für so genannte asymmetrische Kosten, also etwa für den Fall, dass ein zu frühes Ende der Rast sehr viel nachteiliger für die Gruppe wäre als ein verspäteter Aufbruch. Allerdings müssen die demokratischen Regeln hier leicht modifiziert werden, da, wie das Modell zeigt, ansonsten eine despotische Entscheidung mehr Vorteile brächte. Das heißt: Nicht mehr die einfache Mehrheit entscheidet über den Aufbruch, sondern eine Zweidrittelmehrheit. Zumindest in menschlichen Gemeinschaften sei diese Art der Abstimmung gang und gäbe, erklären die Forscher und verweisen auf das Grundgesetz der Bundesrepublik, demzufolge Verfassungsänderungen einer Zweidrittelmehrheit der Parlamentsabgeordneten bedürfen. Wie weit ein vergleichbares »Abstimmungsverhalten« auch in Tiersozietäten vorkommt, müsse dagegen noch untersucht werden. Die Forscher sind außerdem der Frage nachgegangen, ob in bestimmten Situationen eine Diktatur der Demokratie eindeutig überlegen ist. Nach ihrem Modell gibt es zumindest eine solche Situation: Immer dann, wenn die Gruppe sehr klein und der Erfahrungsvorsprung des Leittieres sehr groß ist, lohnt es sich für alle Tiere, der Entscheidung des »Despoten« bedingungslos zu folgen. In der Realität sind darüber hinaus zahlreiche Fälle bekannt, wo nicht ein einzelnes Tier, sondern eine privilegierte Gruppe über das weitere Vorgehen der Gemeinschaft entscheidet. Eine solche »Oligarchie« herrscht nachweislich in Verbänden von Rothirschen und Gorillas. Hinzu kommt, dass bei vielen Tierarten nicht alle Individuen stimmberechtigt sind, sondern nur die erwachsenen Tiere, die unter sich allerdings wieder demokratisch abstimmen. Und auch das Geschlecht der erwachsenen Tiere spielt bei der Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle. Gruppen von Pavianen beispielsweise sind patriarchalisch organisiert. Hier entscheiden allein die Männchen, wie die Gruppe sich zu verhalten hat. Anders bei Afrikanischen Elefanten, wo die Weibchen die Marschroute der gesamten Herde festlegen. So verblüffend die Parallelen zwischen Tier- und Menschendemokratie auch sind, ein wesentlicher Unterschied bleibt: Menschen treffen ihre Entscheidungen bewusst und sind im Prinzip fähig, sie jederzeit zu korrigieren. Dennoch habe das neue Modell einen großen Vorzug, meint die Verhaltensbiologin Anna Dornhaus von der Bristol University. Denn es zeige, dass die Demokratie nicht erst von Menschen erfunden wurde, und dass die Welt der Tiere - entgegen landläufiger Klischees - nicht nur von Dominanz und Gewalt geprägt sei.
Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das beste Mittel gegen Fake-News und rechte Propaganda: Journalismus von links!

In einer Zeit, in der soziale Medien und Konzernmedien die Informationslandschaft dominieren, rechte Hassprediger und Fake-News versuchen Parallelrealitäten zu etablieren, wird unabhängiger und kritischer Journalismus immer wichtiger.

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Vielen Dank!

Unterstützen über:
  • PayPal