Feindliche Übernahme der Kindheit

Deutschlands Unternehmer fordern radikale Abkehr vom »verschmusten« Bildungssystem

  • Martin Koch
  • Lesedauer: 4 Min.
Dass Kinder keine Miniatur-Erwachsenen sind, sondern eigene Sichtweisen, Gedanken und Gefühle entwickeln, gilt als eine wichtige Erkenntnis der Aufklärung. Seit PISA jedoch werden Kinder immer häufiger als »lohnende Zukunftsinvestitionen« betrachtet, die so früh wie möglich auf das Berufsleben vorbereitet werden sollen.
Keith Peiris ist Präsident von Cyberteks Design, einer Firma mit fünf Angestellten, die Internetseiten für Unternehmen in den USA und Kanada programmiert. Im Februar 2001 reiste er mit einer kanadischen Handelsdelegation nach China, um dort Wirtschaftsgespräche zu führen. »Ich fühle mich gut, wenn die Leute meine Arbeit und meine Führerschaft anerkennen«, erklärte er seinen fernöstlichen Gastgebern. »Nun wissen wir, dass Menschen auf der ganzen Welt respektieren, wenn wir hart arbeiten. Also, arbeite hart und bewahr dir deine Träume.« Keith Peiris ist 13 Jahre alt. Schon mit drei saß er am Computer, mit sechs installierte er bei Freunden und Bekannten die Software. Gleichwohl gibt der Sohn eines Computerfachmanns sich betont bescheiden: »Ich glaube, dass ich ein ganz normales Kind bin.« Noch dürften die meisten Menschen dies bezweifeln. Denn »normale« Kinder sind keine kleinen Manager, die schon mit Drei an ihrer Karriere basteln. »Normale« Kinder spielen vor allem, ohne damit weit gesteckte Ziele zu verfolgen. Sie spielen, weil es ihnen Spaß macht und sie dabei lernen. Spielen ist die Grundlagenforschung des Kindes, schreiben Peter Köpf und Alexander Provelegios in ihrem Buch »Wir wollen doch nur ihr Bestes!«, in dem sie eindrucksvoll belegen, wie Kinder schon früh von Politik und Wirtschaft für die Zukunft instrumentalisiert werden: Sie sollen den Standort verteidigen, die Rentenkassen sichern, Deutschland vor Überalterung bewahren und Profite abwerfen. Fragt sich nur, ob der deutsche Nachwuchs für solche Aufgaben überhaupt geeignet ist. Denn laut PISA dominiert im Land der Dichter und Denker derzeit das geistige Mittelmaß. Doch was für Bildungsbehörden ein Grund zum Wehklagen ist, löst in Unternehmerkreisen mitunter heimliche Freude aus. Erst durch den PISA-Schock würden Reformprozesse möglich, die vorher nur schwer denkbar gewesen seien, erklärte Dirk Plump, der Präsident der Handelskammer Bremen, kürzlich auf einem Bildungstag für Unternehmer. Auch Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt fordert ein Ende der »Schmusepädagogik«, die Leistung zu einem verpönten Begriff gemacht habe. Was aber soll an die Stelle des vermeintlich verschmusten deutschen Bildungssystems treten? Wie kaum anders zu erwarten, richten deutsche Politiker ihre Blicke hoffnungsvoll nach Amerika, obwohl die US-Schüler bei PISA ebenfalls einen miserablen Eindruck hinterlassen haben. Um so etwas in Zukunft zu verhindern, plädieren amerikanische Bildungsexperten für eine möglichst frühe Förderung der Kinder - à la Keith Peiris. »Die ersten drei Lebensjahre des kleinen Kindes sind entscheidend für die Hirnentwicklung«, erklärte der amerikanische Publizist Ron Kotulak 1993 in einer Artikelserie der »Chicago Tribune«, die in den USA bis heute nachwirkt. Darin konnten Eltern lesen, dass die Zeit, die ihre Sprösslinge mit Spielen verbrächten, verlorene Zeit sei, da bereits das kleine Gehirn durch Lernhilfen systematisch stimuliert werden könne. Kotulak schlug sogar vor, Kinder mit drei Jahren einzuschulen. Auch hier zu Lande fänden solche Ideen immer mehr Anhänger, meinen Köpf und Provelegios, obwohl es keine wissenschaftlichen Belege für Kotulaks Thesen gebe. Im Gegenteil. Der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer hält den Übereifer mancher Eltern sogar für kontraproduktiv: »Es macht keinen Sinn, Entwicklungen forcieren zu wollen. Die Kinder werden aufgezwungene Angebote nicht annehmen, unnütze Zeit mit Abwehr verbringen, und es schwer haben, das für sie Wichtige herauszufiltern.« Es sei mithin vernünftiger, Kindern verschiedene Anregungen zu bieten und ihnen den Reiz des Lernens zu vermitteln. Umstritten ist nach wie vor die Frage, was Kinder eigentlich lernen sollen, vor allem in der Schule, die bekanntlich auf das Leben vorbereitet. Wer Goethes »Faust« oder Darwins Evolutionstheorie kennt, weiß damit noch lange nicht, wie man gute Bankgeschäfte macht. Deutsche Unternehmer plädieren deshalb für ein neues Pflichtfach: Ökonomie. Natürlich sollen die Schüler dort nicht Marx oder andere Kritiker des Kapitalismus kennen lernen. Wirtschaft müsse endlich »wertfrei« unterrichtet werden, fordert Franz-Josef Leven vom Deutschen Aktieninstitut, das dafür gleich einige Bücher bereithält wie »Deutschland braucht die Aktie« oder »Erfolgreiches Depotmanagement«, von Leven persönlich verfasst. »Die Wirtschaft hat dem alten humanistischen Schulwesen den Krieg erklärt«, resümieren Köpf und Provelegios. Wobei diese feindliche Übernahme in der Absicht geschieht, auch im Bildungsbereich Demokratie und Chancengleichheit immer weiter abzubauen. Schon heute fließen die privaten und öffentlichen Fördermittel größtenteils in die Gymnasien und Hochschulen. Haupt- oder Gesamtschulen werden hingegen bescheidener bedacht. Die Quittung kam mit PISA: Nirgends sonst auf der Welt ist die Kluft zwischen guten und schlechten Schülern so groß wie in Deutschland. Viele Eltern greifen derweil zur Selbsthilfe und schicken, sofern sie das nötige Kleingeld besitzen, ihre Sprösslinge zum privaten Zusatzunterricht. Einer Studie zufolge erhalten knapp 30 Prozent aller Schüler an allgemein bildenden Schulen bis zu acht Stunden Nachhilfe pro Woche - Tendenz steigend. Ungeachtet der Tatsache, dass hier ein riesiger Schwarzarbeitsmarkt entsteht, bringt der Extraunterricht nur selten das gewünschte Resultat, da die meisten Nachhilfeschüler sich dadurch entwürdigt und häufig überfordert fühlen. Denn Lernen braucht Zeit, nicht zuletzt freie Zeit, wenn neben den geistigen auch die sozialen und emotionalen Fähigkeiten eines Kindes entwicklungsgerecht reifen sollen.
Peter Köpf/Alexander Provelegios: Wir wollen doch nur ihr Bestes! Das Abraham- Syndrom: Wie unsere Kinder verplant und verwertet werden. Europa Verlag Hamburg, Wien. 192 Seiten, 14,90 Euro
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