Der Chor der Ja-Sager

Vor 70 Jahren: Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes

  • Klaus Höpcke
  • Lesedauer: 5 Min.
Am 23. März 1933 stimmten im Deutschen Reichstag für das Ermächtigungsgesetz mit Nazis und Deutschnationalen: Zentrum, Bayerische Volkspartei, Deutsche Staatspartei, Volksdienst (Evangelische Bewegung), Deutsche Bauernpartei und Deutsche Volkspartei.
Zwischen zwei westdeutschen Rechtsanwälten, beide Abgeordnete des Bundestags, brach vor einem Jahr Streit über ein Geschichtsereignis aus. Es ging um die Sitzung des Reichstags am 23. März 1933, in der das Hitlersche Ermächtigungsgesetz beschlossen wurde. Das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten der kurz als »bürgerlich« bezeichneten Parteien hatte Ludwig Stiegler, SPD, zum Anlass genommen, in der Zuwanderungsdebatte CDU/CSU sowie FDP zu ermahnen, sich daran zu erinnern, wie die Parteien, in deren Nachfolge sie angetreten sind, geholfen haben, Hitler an die Macht zu bringen. Wolfgang Bosbach, CDU, meinte, den Vorwurf zurückweisen zu können. Womit er doppelt irrte. 1. Jede seriöse Darstellung zu Gründung, Entwicklung, Programm und Praxis der CDU kommt nicht um die Feststellung herum, dass es ein ehemaliger Zentrumspolitiker war, der die CDU als Sammlungspartei einstiger Anhänger des vor allem katholisch geprägten Zentrums und der eher evangelisch orientierten Mitgliedschaft und Wählerschaft von Deutschnationaler Volkspartei und Deutscher Volkspartei inspirierte: Konrad Adenauer. Die Gründer der CSU waren meist frühere Mitglieder der Bayerischen Volkspartei. Die FDP ist von Spitzenpolitikern der liberalen Hauptparteien der Weimarer Republik gegründet worden: der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Volkspartei. Was soll angesichts dessen das Bosbachsche Gezeter über die Bezeichnung Nachfolgeparteien? 2. Was geschah wirklich am 23. März 1933, davor und danach? Trotz der durch die Reichstagsbrandprovokation vom 27. Februar 1933 ausgelösten Polit-Psychose gelang es der Nazi-Partei bei den am 5. März 1933 veranstalteten Reichstagswahlen nicht, die Mandatsmehrzahl zu erreichen. Sie erreichten »nur« 43,9 Prozent der Stimmen. Kurzerhand wurden am 9. März 1933 die Mandate der 81 gewählten KPD-Abgeordneten annulliert, viele der Abgeordneten wurden verhaftet. Wirkliche Demokraten unter den im Reichstag verbliebenen Abgeordneten hätten gesagt: »Dies ist nun nicht mehr das Parlament, das gewählt wurde. Es ist nicht befugt, irgendwelche gesetzgeberische Akte vorzunehmen.« Von den im Reichstag Verbliebenen hat dies jedoch keiner festgestellt - ein Zeichen für die Lähmung demokratischen Verantwortungsbewusstseins. So also konnten die Nazis zur Anzettelung der nächsten Untat schreiten. Sie stellten den Antrag: »Der Reichstag wolle beschließen: folgendem Gesetzentwurf die verfassungsmäßige (!) Zustimmung zu erteilen: Entwurf eines Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich«. Die Drucksache mit dem Entwurf des Gesetzestexts ist am 21. März 1933 ausgegeben worden. Bis zur Reichstagssitzung am 23. März hatten die Abgeordneten zwei Tage Zeit, über die fünf kurzen, jeweils nur einige Zeilen langen Artikel des vorgesehenen Gesetzes nachzudenken. Wirkliche Demokraten musste Abscheu erfüllen vor dem, was ihnen da zu beschließen zugemutet wurde: totale Entmachtung des Parlamentsrests Reichstag und totale Ermächtigung der Reichsregierung unter Kanzler Hitler. In seiner Schrift »Vor den Ruinen Deutschlands« schrieb F.A. Kramer: »So wird einem Catilina die Legalität zugesprochen! Kein Cicero tritt gegen ihn auf, um die Gültigkeit der Wahlen in Zweifel zu ziehen, die Rechtswidrigkeit der Festnahme von Abgeordneten klarzustellen, die formelle und materielle Rechtswidrigkeit des Ermächtigungsgesetzes darzulegen, den Reichspräsidenten vor seiner Unterzeichnung zu warnen, die Länder auf ihre Bedrohung hinzuweisen, an den Staatsgerichtshof als den Hüter der Verfassung zu appellieren, das Volk gegen die Beseitigung seiner Vertreter aufzurufen.« Artikel 1 bestimmte: »Reichsgesetze können außer in dem in der Reichsverfassung vorgesehenen Verfahren auch durch die Reichsregierung beschlossen werden.« Artikel 2 besagte: »Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze können von der Reichsverfassung abweichen...« In Artikel 3 hieß es: »Die von der Reichsregierung beschlossenen Reichsgesetze werden vom Reichskanzler ausgefertigt und im Reichsgesetzblatt verkündet. Sie treten, soweit sie nichts anderes bestimmen, mit dem auf die Verkündung folgenden Tage in Kraft.« Konnte diese Ungeheuerlichkeit noch gekippt werden? Die Chance bestand. Und Tatsache bleibt: Die Stimmen der Abgeordneten der NSDAP allein hätten nicht gereicht, das Gesetz durchzubringen. 94 Abgeordnete der SPD stimmten mit Nein; 20 weitere sozialdemokratische Abgeordnete, die das wohl auch getan hätten, konnten an der Sitzung nicht teilnehmen, weil sie wie ihre kommunistischen Abgeordnetenkollegen verhaftet worden waren. Otto Wels hielt vor der Abstimmung eine Rede, die nicht frei von kritikwürdigen Äußerungen der Anbiederung war. Solche Redepassagen schmälerten das Gewicht des Nein wie auch drei spätere beschämende Handlungen: die am 17. Mai von 65 SPD-Abgeordneten gegebene Zustimmung zum außenpolitischen Programm der Hitler-Regierung, die Austrittserklärung der SPD aus der Sozialistischen Arbeiter-Internationale und der Beschluss einer von Paul Löbe geleiteten Funktionärskonferenz, alle jüdischen Parteimitglieder aus dem Vorstand zu entfernen. Otto Wels darf, weil er am 23. März 1933 das Nein begründete, dennoch eine gewisse Portion Mut bescheinigt werden. Andererseits wird von verschiedenen Autoren darauf verwiesen, dass ein Auszug aus der Reichstagssitzung zur Zeit der Abstimmung ein beträchtlich größeres politisches Gewicht gehabt hätte, da dadurch »die Abstimmung unmöglich geworden wäre, weil die Anwesenheitsziffer nicht ausgereicht hätte«. So sah es F. A. Kramer. Auch hätte das Hitler-Kabinett derart einen nicht unbeträchtlichen außenpolitischen Image-Schaden erlitten. Doch nun zu den so genannten bürgerlichen Parteien. Einzelne Abgeordnete von diesen warnten im Verlauf interner Fraktionsberatungen am 22. März vor einer Zustimmung, darunter der einstige Notverordnungskanzler Heinrich Brüning von der Zentrumspartei. Die Warner blieben aber in der Minderheit. Und unter dem Regime des Fraktionszwangs unterwarfen sie sich der Zustimmungslinie ihrer Führungen. 72 Abgeordnete des Zentrums, 53 Abgeordnete der Deutschnationalen Volkspartei, 19 Abgeordnete der Bayerischen Volkspartei, fünf Abgeordnete der Deutschen Staatspartei, vier Abgeordnete vom Volksdienst, zwei Abgeordnete der Deutschen Bauernpartei und ein Abgeordneter der Deutschen Volkspartei stimmten im Chor mit Ja. Das politische Verbrechen vom 23. März 1933 bestand in der Auslöschung eines letzten Restbestands parlamentarischer Demokratie in Deutschland. Begangen haben dieses Verbrechen Nazipartei und Deutsch-Nationale Volkspartei als Haupttäter. Mittäter waren die Ja-Sager von Zentrum, Volksdienst sowie Bayern-, Bauern-, Staats- und Volkspartei. Wer in deren Tradition steht, hat sehr wohl Grund zu historischer Aufarbeitung.

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