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  • Politik
  • Drei Bände mit Porträts, Erinnerungen und Aufsätzen von GOLO MANN

Wir alle sind, was wir gelesen

  • JOCHENMARQUART
  • Lesedauer: 5 Min.

nach 40 Jahren der Isolation wieder eingeholt. Die beängstigenden Geschehnisse im Osten und im Südosten Europas - und bei weitem nicht nur dort - all dies aktualisiert die uralte Frage nach den Einflußmöglichkeiten des einzelnen auf den Gang der Geschichte, die Frage nach der Selbstbestimmbarkeit des Lebens und nach der moralischen Dimension politischsozialen Handelns.

Es sind dies auch Kernfragen des Schriftsteller-Historikers Golo Mann. Vielfältig und verschlungen, einander kreuzend und einander fliehend, sind die Wege, auf denen er sich seinem Gegenstand nähert, nach Wahrheit suchend, stets aufgeschlossen gegenüber seinen Lesern. Die lebendigen Geschichtsdarstellungen des heute zweiundachtzigj ährigen Golo Mann werden immer wieder aus zwei Quellen gespeist. Zum einen ist dies die intensive Beschäftigung mit dem Wirken einzelner bedeutender Persönlichkeiten, in deren Leben sich Geschichte gleichsam wie in einem Brennspiegel konzentriert. So etwa in den längst berühmt gewordenen

Arbeiten über „Friedrich von Gentz“ (1947) oder „Wallenstein“ (1971), so auch in dem Band „Wissen und Trauer“. Er vereint unter anderem „Historische Portraits und Skizzen“ über Simon Bolivar, Otto von Bismarck, Max Weber, Bertrand Russell, Helmuth James von Moltke und Albert Speer -„Des Teufels Architekt“. Golo Mann liefert in diesem Reclam-Band aus Leipzig einen - in dieser Zusammenstellung - neuen Beweis für die subjektive historische Authentizität erzählter Geschichte. Unter kritischer Bezugnahme auf Wilhelm Diltheys hermeneutische Unterscheidung zwischen Erklären und Verstehen, und das heißt für Golo Mann: zwischen theoretischer und narrativer Darstellung, wird in seinem „Plädoyer für die historische Erzählung“ (1979) deutlich: „Auch zwischen Erklären und Erzählen ist kein Gegensatz, wenn der Erzähler sein Handwerk beherrscht“ (S. 233). Bereits der Untertitel seines „Wallenstein“ hatte gelautet: „Sein Leben erzählt von Golo Mann“.

Golo Mann: Wissen und Trauer. Historische Portraits und Skizzen. Hrsg. von Wolfgang Mertz und Karin Schlapp. Reclam-Verlag Leipzig. 247 Seiten, broschiert, 7,50 DM. Golo Mann: Erinnerungen und Gedanken. Eine Jugend in Deutschland. Fischer Taschenbuch Verlag Frankfurt am Main. 576 Seiten, broschiert, 16,80 DM. Golo Mann: Wir alle sind, was wir gelesen. Aufsätze und Reden zur Literatur, Verlag der Nation Berlin. 283 Seiten, gebunden. 18.50 DM.

Deutschland“ ebenso wie der Sammelband „Wir alle sind, was wir gelesen“ aus dem Jahre 1989. Gerade auch diese beiden Bände zeigen, wie stark sich Golo Manns Geschichtssicht, wurzelnd im träditionsbewußten, hochkünstlerisch, ambitionierten Elternhaus, in seinem sehr eigenständigen Werdegang festigte und ihn zum Skeptiker gegenüber jeglicher historischen Erscheinungsform geschichtlicher Theorie werden ließ. So sind denn auch ein Dichter und ein Philosoph geradezu symbolhafte, ideale Bezugsfiguren seines Denkens, wie in der Jugend schon, so noch im Alter: Friedrich Hebbel, der Meister des deutschen Geschichtsdramas im 19. Jahrhundert, und Karl Jaspers - sein Lehrer. Beiden sind eigenständige Kapitel seiner Autobiographie gewidmet, die bis in das Jahr 1933 führt. Angesichts der Universalität des Wissens, die Golo Mann auszeichnet, bedarf es keiner Frage, daß er bei anderen auch „Alles“ fand, „was grübelnde Jugend suchte“: Schopenhauer wäre hier zu nen-

nen, dessen „Welt als Wille und Vorstellung“ er verschlang „wie den größten aller Romane“ (S. 296), um sich dann doch bei Hegel festzulesen, den dieser nicht hat.verstehen wollen - im Gegensatz zu Karl Marx, der gleichfalls Spuren hinterließ bei Golo Mann, wenngleich per negationem.

„Wir alle sind, was wir gelesen“ so oder so. Das Eichendorff-Zitat beinahe ein Bekenntnis - bildet die geistige Klammer für neunzehn „Aufsätze und Reden zur Literatur“ aus fünf Jahrzehnten, die unter diesem Titel vereint sind. Sie umspannen einen Zeitraum, der von der Antike bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreicht, und sie umfassen gleichermaßen französische, spanische, amerikanische und deutsche Autoren: Von Tacitus und Augustinus über Cervantes, Hölderlin und Kleist bis zu Heinrich Mann, Ernst Jünger und George OrweÜ. Bereits in Buchform veröffentlichte Aufsätze stehen neben kleineren Arbeiten aus der Tagespresse. Doch sie alle, die großen Essays wie die Miniaturen, verweben

sich zu einem bunten Teppich universaler (Literatur-)Historie, als dessen Leitfaden die folgende Sentenz aus genanntem „Plädoyer“ erkennbar wird: „Was auch die beste Strukturanalyse niemals kann: uns die Fülle vergangenen Lebens in ihrer Offenheit nach der Zukunft hin darzubieten... Für die Lebenden war die Zukunft nie entschieden, sie wußten durchaus nicht, was kommen würde, genau so wenig, wie wir heute wissen, was im nächsten Jahr sein wird...“ (S. 239) Mag vieles für eine solche Geschichtsbetrachtung sprechen; mag sie auch noch so viel an stoischer Distanz zur eigenen bewegten Gegenwart zu vermitteln - so bleibt doch die Frage, ob sie dem vielfältigen Beziehungs- und Bedingungsgeflecht, in dem heutiges politisches Handeln sich vollzieht, nur im entferntesten gerecht werden kann. Ihre Stärke - die Nähe zur Anschaulichkeit historischer Dichtung - scheint zugleich auch ihre Schwäche; denn immer wieder ist auch dies eine Erkenntnis erlebter Geschichte: daß die vermeintliche Einsicht in die erzählte „Fülle vergangenen Lebens“ nur sehr beschränkt zur Nachricht eigener Betroffenheit dienen kann und Lektüre „nach der Zukunft hin“ kaum einen Impuls zur Änderung erzeugt: Wir alle lesen, was wir sind, und bleiben, was man uns erzählt.

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