Gysi schwitzt beim Brücke bauen

PDS-Kandidat wirbt um Stimmen und Verständnis

Der erklärte Brückenbauer Gregor Gysi setzt für die innere Einheit Berlins Fundamente im östlichen Ortsteil Mahlsdorf und im westlichen Wedding.
Mittwoch gegen 13 Uhr am S-Bahnhof Mahlsdorf im Ostberliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf. »Ist das heiß«, stöhnen drei 16-Jährige und beschließen, Baden zu gehen. Die Jungs vom PDS-nahen Jugendverband Solid müssen am Infostand der Partei ausharren. »Um 13.30 Uhr kommt Gregor Gysi«, wird über Lautsprecher verkündet. Den hiesigen Bundestags-Wahlkreis hat noch nie jemand anders gewonnen als Gregor Gysi. Jetzt tritt er an, dem CDU-Politiker Mario Czaja das Direktmandat fürs Berliner Abgeordnetenhaus im südlichen Teil den Bezirkes, in Mahlsdorf-Kaulsdorf, abzujagen. Ein Heimspiel? Wenn es für einen Platz in der Stadtregierung nicht reicht, will Gysi im Bundestag bleiben. Manche Bürger fürchten, dass der von ihnen Gewählte dann doch nicht für ihre Interessen streitet. Die drohende Schließung des Krankenhauses Kaulsdorf ist ein Thema, das die Gemüter bewegt, weiß Stefan Bruderek von Solid, der sich auskennt, weil er gleich um die Ecke wohnt. Als Gysi auftaucht, berichtet ihm Brudereks Mitstreiter Björn Tielebein: »Die Leute wollen wissen, was du für Mahlsdorf tun wirst.« Doch dann kommt es ganz anders. Ein ehemaliger Tänzer von der Komischen Oper klagt, dass er als Rentner den Eintritt für die Staatsoper nicht mehr bezahlen könne. Die Ostberliner müssten ihre kulturellen Bedürfnisse zurückstellen, weil sie weniger Geld hätten als die Westler. Diese Einschätzung findet Gysi ungerecht. Auch drüben gebe es Leute, für die die Staatsoper zu teuer sei. Außerdem erinnert Gysi an den Wegfall der Berlinförderung. Westberliner mussten dadurch Lohneinbußen hinnehmen, argumentiert er. Deshalb sei es verständlich, wenn einige riefen: »Baut die Mauer wieder auf!« Sara Reichert (19) und Micha Solowjow (18) trieb die Liebe zum Infostand. Sie haben ein kleines Kind und wollen heiraten. Doch der gebürtige St. Petersburger Micha ist in Deutschland seit 1990 nur geduldet. Auch ein russischer Pass fehlt ihm, weil er 1994 eine Umtauschaktion versäumte. Gysi gibt ihnen die Nummer einer PDS-Expertin und verspricht, notfalls an den Regierenden Bürgermeister zu schreiben. Sara und Micha lächeln und hoffen. Ganz grimmig dagegen schaut ein Mann aus einem vorüberfahrenden Auto mit Brandenburger Kennzeichen. »Mörderbande, Kommunistenschweine. Euch müsste man alle einsperren«, schreit er. Einen solchen Vorfall fürchteten die Genossen eigentlich im westlichen Wedding. Dort auf dem Leopoldplatz tritt Gysi am Abend um 17.45 Uhr auf. Auch hier zetert noch Minuten vorher eine Frau mit sächsischem Akzent gegen die Sozialisten. Als Gysi kommt, fragt sie scharf, warum Schulen geschlossen werden. Die Erklärung des PDS-Mannes, Berlin solle mehr Geld für Bildung ausgeben, bewegt die Frau dann aber sogar noch zum Nicken. Zwei Drittel von Wedding gehören zu den ärmsten Gegenden der Stadt und der Ausländeranteil ist hoch. Dementsprechend kritisiert ein Mann die hohen Diäten der Politiker. Ein Farbiger möchte wissen, was die PDS für die Integration der Ausländer tun will. Viele drängeln sich, um ihre Frage zu platzieren. Gysi kommt ins Schwitzen- wegen der Hitze und weil das Mikro zwischenzeitlich ausfällt. Er verspricht Einfrierung der Diäten und zweisprachige Schulausbildung. Beliebt macht er sich mit der Anmerkung, dass über der Aufbauarbeit Ost die Verslumung in Wedding nicht aus den Augen verloren werden darf. Aber er redet nicht nur zum Mund und wirbt auch um Verständnis für Ostdeutsche, die beleidigt seien, wenn DDR-Unrecht mit den Verbrechen der Nazis verglichen werde. Es gebe keine unterschiedliche Strategie für Gysis Auftritte im Westen, versichert seine Sprecherin Roswitha Steinbrenner. Trotzdem kommt der Spitzenkandidat hier zuweilen an. Der Weddinger Olaf Schlesinger zum Beispiel war bis zum CDU-Finanzskandal Parteimitglied bei den Konservativen. Jetzt will er Gysi wählen, weil er dazu keine Alternative mehr sieht.
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