»Wählt das Leben«

Dorothee Sölle: Für die Theologin gehörten Kampf und Kontemplation zusammen

  • Heinrich Fink
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Die Nachricht vom Tod von Dorothee Sölle, der unentbehrlichen Weggefährtin im »Nein zum Krieg« und im unverdrossenen, widerständigen »Ja zu Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung« - macht stumm. Für die Erinnerungen, die mir seither durch den Kopf stürmen, sind nur schwer Worte zu finden. Ich habe ihre Bücher auf meinem Schreibtisch aufgetürmt - dicke Bände und Gedichthefte - wie ein Gegenbeweis zum unabänderlichen Abschied.
Der biblische Imperativ »Wählt das Leben« ist für sie nicht nur der Titel eines ihrer Bücher, sondern die Herausforderung, die hinter jeder theologischen und zugleich politischen Äußerung steht. Damit meinte Dorothee Sölle das große Ja, mit dem Glaubende allen verneinenden und tödlichen Kräften in der Gesellschaft und in der eigenen Seele entgegenzutreten vermögen. Es bedeutet, neu zu erfahren, dass der Weg Jesu für unser Leben »nicht endete, als er zu Tode gefoltert wurde; alles fing erst richtig an. Das nennen wir Auferstehung.« Die Beschreibung dieser Erfahrung ist für Dorothee Sölle Kernpunkt der christlichen Tradition: Glauben, Sünde, Kreuz, Christus, Auferstehung - beschreibt sie mit biblischen Texten verwurzelt immer im konkreten gesellschaftlich-politischen Kontext unserer heutigen Situation, deren »objektiver Zynismus« den Widerstand aus der Kraft des Glaubens herausfordere. Deshalb schreibt sie darüber, »wie den Menschen Flügel wachsen - zur Umkehr aus dem Gewaltsystem«.
»Aufrüstung tötet auch ohne Krieg.« So begann ihre Rede auf der großen Friedenskundgebung am 10. Oktober 1981 in Bonn. Dorothee Sölle gehört wohl zu den bekanntesten Sprecherinnen der Friedensbewegung. Ihre wichtigsten Reden und Aufsätze sind glücklicherweise gedruckt und fordern darum ständig aufs Neue Engagement als »Protest für die Schöpfung« heraus.
Ihre Gedichte habe ich oft wie einen Doppelpunkt zwischen Referaten und Manuskripten empfunden.
Zum Beispiel »Frei nach Brecht«:/ meine junge tochter fragt mich/ griechisch lernen wozu/ sym-pathein sage ich/ eine menschliche fähigkeit/ die tieren und maschinen abgeht/ lerne konjugieren/ noch ist griechisch nicht verboten«
Dorothee Sölle hat als Altphilologin nicht nur ihre Lehrer, auch ihre Freunde ständig befragt und sich von Schülern, Studenten, ihren eigenen Kindern und schließlich Enkelkindern fragen lassen. Sie hat geschrieben, referiert, gepredigt und Interviews gegeben bis an den Rand ihrer physischen Möglichkeiten. Ihre Nachdenk-Arbeit hatte verlässliche Herausforderungen und Zuspruch in der Liebe zu und von ihrem Mann Fulbert Steffensky und pars pro toto ihrer Freundin Luise Schottroff. Helmut Gollwitzer sagte in freundschaftlicher Sympathie, dass an Dorothee Sölles Art, das Evangelium als Inspiration neu zu lesen und gemeinsam neu zu leben, sich auch weiterhin die Geister scheiden werden.
Kein Theologe hat wie sie in vier Jahrzehnten nicht nur Kirchen und Theologen öffentlich zu ständiger Auseinandersetzung in Vorträgen und Büchern herausgefordert: Auf Kirchentagen und Tagungen der Evangelischen Akademien, vor Studenten, auf Friedensdemonstrationen und Protestkundgebungen ging es ihr um »jetzt und hier«. Aber zugleich auch um solidarische Verbundenheit weltweit mit denen, deren Leben immer ärmer durch den wachsenden Reichtum der Reichen wird. Für die Revolution in Nikaragua hoffte sie mit engen Freunden wie Ernesto Cardinal, Frei Betto und Leonardo Boff.
Wen wundert es da, dass die Theologischen Fakultäten in Deutschland sich nicht entschließen konnten, sie auf einen Lehrstuhl zu berufen? Erst im UNO-Jahr der Frau 1975 bekam sie eine Berufung nach Amerika an das Union Theological Seminary in New York auf den Lehrstuhl von Paul Tillich, der 1933 Deutschland wegen des Faschismus verlassen musste. Hier hat sie Gelegenheit bekommen, ihre politische Theologie zu lehren, die sie sich in Begegnungen mit »Christen für den Sozialismus« im »Politischen Nachtgebet« und im Kontext feministischer Theologie erarbeitet hatte.
Dorothee Sölle bekannte sich als Pazifistin, redete auf vielen Friedensdemonstrationen in West und Ost, zum Beispiel gegen den NATO-Doppelbeschluss, auf der Freien Heide gegen die Wiedererrichtung eines Bombodroms im Brandenburgischen.
Nach ihrem Vortrag bei der Evangelischen Akademie Bad Boll zum Thema »Gott und das Glück« ist Dorothee Sölle nicht zu ihrer Familie und ihrem Schreibtisch zurückgekehrt. Für das Programm des Ökumenischen Kirchentages im Mai in Berlin hatte sie für das Podium »Wes das Herz voll ist - der muss handeln« zugesagt, auch mit Vertretern der Wirtschaft zu diskutieren. Ebenso auf dem Podium »Kirche - Banken - Weltfinanzsystem«. Denn sie forderte unermüdlich, »Gerechtigkeit zu globalisieren«.
Dorothee Sölle hat uns durch ihr Denken - gesprochen oder gedruckt - nachdrücklich an ihrem Leben beteiligt: »Sich einmischen heißt Widerstand organisieren und der profitablen Zerstörung um Gottes willen Einhalt gebieten.«
Bleibt uns, ihr dankbar zu versprechen, ihre Ermutigung und Herausforderung für uns und andere im Leben zu behalten: »Frei werden wir erst, wenn wir uns mit dem Leben verbünden gegen die Todesproduktion und die permanente Tötungsvorbereitung. Frei werden wir weder durch Rückzug ins Private, ins "ohne mich" noch durch Anpassung an die Gesellschaft, in der Generale und Millionäre besonders hoch geachtet werden. Frei werden wir, wenn wir aktiv, bewu...

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