Der Arbeiteraufstand - was geschah am 17. Juni 1953?

Fakten und Deutungsversuche, aufgeschrieben von der Historischen Kommission der PDS

  • Lesedauer: 14 Min.
Der 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 in der DDR steht bevor. Eine Vielzahl von Buchpublikationen ist bereits auf dem Markt, Fernsehdokumentationen und Hörfunkfeatures werden in den nächsten Tagen ausgestrahlt. Kein Ereignis in der 40-jährigen Geschichte der DDR scheint von solch großem öffentlichen Interesse in der Bundesrepublik Deutschland zu sein wie eben dieses. Aus gegebenem Anlass verabschiedete die Historische Kommission beim Parteivorstand der PDS nachstehenden Text, den ND im Folgenden leicht gekürzt dokumentiert.
Das Datum 17. Juni 1953 markiert Ereignisse, deren Benennung und Bewertung sogleich umstritten waren und Jahrzehnte hindurch auch umstritten blieben. Doch seit 1989 gibt es wesentlich bessere Voraussetzungen für einen sachgerechten Meinungsstreit. Keine Staatsräson, keine Parteidisziplin blockiert ihn mehr, und er kann sich auf viele neu erschlossene Quellen beziehen.
Die Unruhen begannen schon in der ersten Junidekade mit vielen, zunächst kürzeren Arbeitsniederlegungen und erstem Bürgerprotest. So versammelten sich am 12. Juni vor Haftanstalten in Weimar und in der Brandenburger Innenstadt mehrere hundert Bürger, um Freilassungen einzufordern, die »sofort« herbeizuführen, das SED-Politbüro am 9. Juni versprochen hatte.
Wie sich immer wieder zeigte, konnten die Beschlüsse, mit denen die Partei- und Staatsführung in jenen Tagen mehrere Entscheidungen vorangegangener Monate widerrief, den Ausbruch angestauter Empörung nicht mehr verhindern. Vielmehr ließen sie die in der Gesellschaft und auch in der Partei seit längerem angestauten Gegensätze vollends aufbrechen. Der Widerruf, dem zunächst die Begründung fehlte, verunsicherte die vielen Funktionäre, die zuvor durchgesetzt hatten, was plötzlich als falsch bezeichnet wurde. Die Kritiker hingegen und erst recht die Gegner der Staatspartei fühlten sich in ihrer Haltung bestätigt und bestärkt.
Angekündigt wurden am 9. und 11. Juni insbesondere die Beseitigung jener Restriktionen, die sich gegen Einzelbauern, privat wirtschaftende Handwerker, Kaufleute sowie Unternehmer in Industrie und Bauwesen richteten, die Entschädigung derjenigen, welche aus der Republik geflüchtet waren und nun heimkehren wollten, sowie die Rücknahme der Relegierung von Oberschülern und Studenten, die der Jungen Gemeinde angehörten. Den Arbeitern jedoch blieb das Wichtigste versagt: Der Beschluss zur Normerhöhung wurde sogar bekräftigt! Das trieb Bauleute in der Hauptstadt auf die Straße. Erst daraufhin rückte das Politbüro auch von jenem Mai-Beschluss ab - halbherzig und ohne es hinreichend publik zu machen.

Die Kluft zum Volk vergrößerte sich
Der Marsch von der Berliner Stalinallee zum Haus der Ministerien in der Leipziger Straße wurde republikweit bekannt - und zum Signal für die Streiks vom 17. und 18. Juni. An denen beteiligte sich schätzungsweise eine halbe Million Arbeiter und Angestellte, die ihre Solidarität mit den Berlinern bekundeten und oft auch deren Forderungen aufgriffen, wie sie in den Nachrichtensendungen des RIAS immer wieder zitiert wurden: Auszahlung der Löhne nach alten Normen; Senkung der Lebenshaltungskosten; freie und geheime Wahlen; keine Maßregelung der Streikenden und ihrer Sprecher.
Ohne den RIAS als »Katalysator« - so Egon Bahr, der damals im Sender tätig war - wäre kein solcher Massenstreik zu Stande gekommen. Vieles, was sich am 17. Juni tat, ließ die Wirksamkeit jahrelanger antikommunistischer Propaganda erkennen, wie sie in den USA als »Psychological warfare« perfektioniert wurde.
In Hunderten von Orten fanden am 17. Juni Demonstrationen statt. Sie begannen zumeist mit Märschen von streikenden Arbeitern, denen sich Lehrlinge und Rentner, Hausfrauen und Geschäftsleute anschlossen. Protestversammlungen gab es auch in Dörfern. Die größte Bauernkundgebung erlebte die Thomas-Müntzer-Stadt Mühlhausen: rund 2000 Teilnehmer! Vielerorts kam es zu Ausschreitungen zumeist junger Leute, mancherorts auch zur Verwüstung von staatlichen Einrichtungen und Parteibüros, zur Erstürmung von Haftanstalten und MfS-Dienststellen, zu Misshandlungen von Funktionären und Polizisten. Das veranlasste die sowjetische Besatzungsmacht zur Verhängung des Ausnahmezustands über schließlich 167 der 217 Stadt- und Landkreise.
Am 17. Juni tobten sich auch Randalierer und Rowdies aus. Das gilt insbesondere für die von Westberlin her damals ohne weiteres zugängliche Hauptstadt der DDR. So sehr Exzesse jedoch das Urteil von Augenzeugen bestimmten (vor allem das Urteil jener, welche 20 bis 25 Jahre zuvor den Straßenterror der SA erlebt und erlitten hatten) - den Charakter der Erhebung prägten sie keineswegs. In der Nachtsitzung, zu der sich das Zentralkomitee der SED am 21. Juni versammelte, sprach Kurt Hager von »Arbeitern, die auf die Straße gegangen waren, nicht weil sie Rowdies waren, sondern weil aus ihnen all das an Unzufriedenheit herausbrach, was sich bei ihnen seit acht Jahren angesammelt hatte«. Ministerpräsident Otto Grotewohl bezeichnete die »gegenwärtige Situation« als »Ergebnis der fehlerhaften Politik unserer Partei«. Die habe zur »Verschlechterung der Lebenshaltung der Bevölkerung« geführt, und um mit den »sich steigernden Schwierigkeiten« fertig zu werden, seien jene »politischen und juristischen Zwangsmaßnahmen« ergriffen worden, welche »die sich bildende Kluft zwischen Partei, Regierung und Volk nur noch vergrößerten«.
Die vom Ministerpräsidenten angeführten Fehlentscheidungen erklären sich aus der Logik des Kalten Krieges sowie aus der Übernahme sowjetischer Praktiken beim Aufbau des Sozialismus, wie ihn die 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 beschlossen hatte.
Der im US-amerikanischen Wahlkampf 1952 angekündigte Übergang zur Politik des »Roll back« sowie die Herausbildung eines die BRD einschließenden politisch-militärischen Bündnisses in Westeuropa mussten bedrohlich erscheinen - zumal mit dem Koreakrieg im Hintergrund. Das provozierte die Sowjetunion zur beschleunigten Aufrüstung, in die sie auch die DDR einbezog. Für die Ostdeutschen kamen die Unkosten der Vorbereitung auf den befürchteten Dritten Weltkrieg zu den restlichen Kosten des Zweiten hinzu. Die daraus erwachsenden Zwänge zur Neubeschaffung und Umverteilung von Mitteln verbanden sich mit der Stalinschen Doktrin einer »gesetzmäßigen Verschärfung des Klassenkampfs«.
Hatte sich die SED zuvor (nach der Unterdrückung bürgerlichen Widerstands) darum bemüht, auch die Mittelschichten an dem im Fünfjahrplan konzipierten Aufbauwerk zu beteiligen, so unternahm sie ab Spätherbst 1952 den »Versuch zur Liquidierung der mittleren privaten Warenproduzenten«, wie das Walter Ulbricht im Juli 1953 selbstkritisch nannte. Doch betrafen Spar- und Zwangsmaßnahmen bald weit größere Teile der Bevölkerung. Auch die (gewiss notwendige) Steigerung der Produktivität und Rentabilität volkseigener Betriebe wurde unter Missachtung von Rechten der Gewerkschaften und Belegschaften vorangetrieben. Auf diese Weise geriet die DDR in eine politische Krise, die sich zuerst in einem sprunghaften Anstieg der Republikflucht äußerte. Der im Herbst 1952 eingeleitete Kurswechsel wurde weithin abgelehnt, im Mittelstand ohnehin, aber auch bei Arbeitern, Bauern und so genannten Intelligenzlern, bei Mitgliedern der SED wie bei »Blockfreunden«, wenngleich mit unterschiedlichen Konsequenzen.

Heftigster Protest in Arbeiterhochburgen
Im Juni 1953 äußerte sich der Protest gegen das Regime, das viele Demonstranten im SED-Generalsekretär Ulbricht verkörpert sahen, am heftigsten in den mitteldeutschen Zentren des Maschinenbaus und der chemischen Industrie. In vormaligen Hochburgen der Arbeiterparteien, wie es Magdeburg für die SPD und Halle/ Saale für die KPD gewesen waren, erfasste er auch die Basis der SED. Angaben der Zentralen Parteikontrollkommission zufolge gab es »Betriebe, wo die gesamte Parteiorganisation mitdemonstrierte«. Stark engagierten sich Kommunisten und Sozialdemokraten, die in Vorjahren aus der SED ausgeschlossen worden oder selbst ausgetreten waren.
Was wollten die Arbeiter? Ein Bild davon vermitteln folgende, in Belegschaftsversammlungen erhobene, meist rasch, auf Zuruf zu Papier gebrachte Forderungen, die bald darauf im Vorstand der Industriegewerkschaft Metallurgie zusammengestellt wurden: »Gesamte, freie Wahlen für ganz Deutschland! Einen sofortigen Friedensvertrag für ganz Deutschland! Abzug der Besatzungstruppen für ganz Deutschland! Presse- und Funkfreiheit! Strengste Bestrafung der Schuldigen, die diese Fehler verursachten! Preissenkung sämtlicher HO-Waren um 40%! Mitbestimmungsrecht der Gewerkschaften beim ZK und der Regierung! Die in den Zuchthäusern unschuldig sitzen, sollen freigelassen werden! Die Zeitungen sollen über alle Geschehnisse in der DDR die Bevölkerung in Kenntnis setzen! Keine Repressalien gegenüber den Kollegen! Aufklärung über den Aufenthalt des Genossen Wilhelm Pieck und was er tut! Aufklärung über die Vermißten des letzten Krieges! Lohnkürzungen nicht nur bei den Arbeitern, sondern auch bei der Intelligenz! Wegfall der Klassenunterschiede zwischen der Arbeiterschaft!«
Die auf die Wiedervereinigung Deutschlands abzielenden Forderungen entsprachen denen der DDR-Regierung. Doch erhielten sie jetzt oft den Zusatz, dass freie Wahlen bei Zulassung aller Parteien gemeint waren. Dabei dachten die Arbeiter kaum an die Adenauer-Partei, vielmehr an die SPD, deren Wiederherstellung oder Neugründung in der DDR sie denn auch oft verlangten. Wenn der 17. Juni ein Votum für die Bundesrepublik war, dann nicht für die dort Regierenden, sondern für die Opposition, also für eine programmatisch auf den Sozialismus orientierte Partei, deren Vorsitzender Erich Ollenhauer sich denn auch gegen die Rückgabe des Großgrundbesitzes sowie der Schlüsselindustrien an die früheren Eigentümer aussprach.
In manchen Forderungen der Streikenden kommt als gesellschaftspolitisches Ziel ein libertärer, mehr oder minder ausgeprägt egalitärer Sozialismus zum Vorschein. Abgelehnt wurden oft die materielle Besserstellung der »Intelligenz«, mitunter auch jedwede Arbeitsnormung, der Wettbewerb, die Herausstellung von Bestarbeitern. Dass ein freiheitlicher Sozialismus erstrebt wurde, äußerte sich sowohl in Forderungen zur Wiederherstellung aller staatsbürgerlichen Rechte, als auch in der »basisdemokratischen« Verfahrensweise in Belegschaftsversammlungen und Streikleitungen. Neben Rückgriffen auf ursprüngliche Organisations- und Aktionsformen der Arbeiterbewegung ist stellenweise eine Rückbesinnung auf die betriebliche Selbstverwaltung der frühen Nachkriegszeit nachweisbar. Überall gab es entschiedene Kritik an den Gewerkschaften, die sich der SED untergeordnet hatten, und oft auch Bestrebungen, die Partei aus den Betrieben zu entfernen. Doch anders als die Enteignungen der vorangegangenen Monate wurden die der Jahre 1945/46 nirgendwo in Frage gestellt.
Die Wunschvorstellung, im wiedervereinigten Deutschland die Freiheit mit der Gleichheit zu verbinden und den von der Besatzungsmacht oktroyierten durch einen selbstbestimmten, eigenständigen Sozialismus zu ersetzen, mag eine Triebfeder der Erhebung gewesen sein - zumindest für jene Sozialdemokraten und Kommunisten, welche Sprecher der Streikenden waren.
Die Werktätigen handelten im Juni 1953 keineswegs einheitlich. Nebeneinander gab es Streiks und reguläre Arbeit, ja sogar demonstrative Sonderschichten. So traten auch Unterschiede hervor, die zwischen Regionen, Industriezweigen und Betrieben, in den Lebens- und Arbeitsbedingungen, in Erfahrungen und Erwartungen der Belegschaften bestanden. Zu respektieren sind sowohl jene Bürgerinnen und Bürger, die gegen das SED-Regime demonstrierten, als auch jene, die es verteidigten, weil sie Errungenschaften der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung gefährdet sahen.
Ein massiver Einsatz bewaffneter Kräfte, am 17. Juni vor allem der Sowjetarmee, an den folgenden Tagen auch und hauptsächlich der Kasernierten Volkspolizei, trieb den Protest von den Straßen in die Betriebe zurück. Solange ihr Einsatz dem Schutz von Personen und öffentlichen Einrichtungen sowie der Wiederherstellung der Ordnung galt, war er legitim. Er war es nicht mehr, als er sich gegen Streikende richtete, mit der Festnahme ihrer Sprecher verbunden war und die Wiederaufnahme der Arbeit erzwingen sollte. In manchen Fällen provozierte eben dies, was es verhindern sollte: Es führte zu Protest- und Solidaritätsstreiks von Belegschaften, die sich bis dahin zurückgehalten hatten. So gab es örtlich und zeitlich begrenzte Arbeitsniederlegungen bis zum 24. Juni und nochmals in der ersten Juli-Hälfte. Wie viele Menschen beim Angriff etwa auf Haftanstalten und bei Einsätzen der Volkspolizei sowie der Sowjetarmee am 17. Juni ums Leben kamen oder später infolge ihrer Verletzungen starben, ließ sich nie mit Sicherheit ermitteln. Werden die neun nach Todesurteilen hingerichteten Personen hinzugenommen, dann geht die Gesamtzahl der Toten jedenfalls über 50 hinaus.
Im Juni und Juli wurden schätzungsweise 13000 Personen festgenommen, die meisten aber nach wenigen Tagen entlassen. Auf die Verfassung verweisend, stellte Justizminister Max Fechner in einem Interview klar, dass weder die Teilnahme am Streik, noch die Tätigkeit in einer Streikleitung strafbar seien. Er wurde deshalb beschuldigt, »die faschistischen Provokateure vor der verdienten Strafe zu schützen«, noch im Juli als Minister abgesetzt und selbst inhaftiert.
In der Führung der SED sprach sich damals am deutlichsten Rudolf Herrnstadt, ND-Chefredakteur und Kandidat des Politbüros, für eine konsequente Selbstkritik aus. Er hielt es für notwendig, aber auch für möglich, die SED »innerhalb weniger Monate zu erneuern«. Von »Millionen parteiloser Werktätiger« werde das erwartet, und Hunderttausende Parteimitglieder seien dazu bereit. In der »Kombinierung dieser beiden großen Kräfte«, der Kräfte in der Partei sowie »heilsamen Drucks« von außen, sah er eine große Chance. Wie es für die auf Moskau fixierten Kommunisten damals gar nicht anders vorstellbar war, blieb die SED auch für Herrnstadt die Staatspartei. Wenn er aber im Entwurf für die Entschließung der 15. ZK-Tagung Dogmatismus und Sektierertum anprangerte, Personenkult und Bürokratismus sowie die Missachtung und Bevormundung der Werktätigen verurteilte, schwebte ihm vor, was später Entstalinisierung genannt wurde. Das konnte Erfolg haben, soweit es sich mit dem vereinbaren ließ, was in der KPdSU nach Stalins Tod begonnen hatte. Solange aber in der DDR die politische Krise anhielt, schreckten Herrnstadt und Gleichgesinnte vor einer zweifellos riskanten offenen Auseinandersetzung in der Partei zurück. Ulbricht gewann Zeit - bis ihm der Streit um die Stalin-Nachfolge die Möglichkeit bot, Rudolf Herrnstadt und Wilhelm Zaisser mit dem in Moskau unterlegenen Berija in Verbindung zu bringen und aus der Parteiführung zu entfernen.
Ende Juli 1953 erklärte das Zentralkomitee der SED die Streiks und Demonstrationen zu einem »faschistischen Putschversuch«, den »eine von den Amerikanern organisierte und unterstützte faschistische Untergrundbewegung« vorbereitet hätte. Ein Missbrauch antifaschistischer Traditionen verhalf der Partei- und Staatsführung zum Alibi für die rücksichtslose Abrechnung mit allen Kritikern. Die im August in den Betrieben angeschobene Entlassungs- und Verhaftungswelle ging einher mit Tausenden von Ausschlüssen aus der SED, einem weitgehenden Kaderaustausch in Parteileitungen sowie mit der »Säuberung« vieler Gewerkschaftsvorstände.
Im September rügte das Politbüro den Staatssicherheitsdienst, weil der bis dahin »nicht die Organisatoren der Provokation entlarvt« hatte. Wegen angeblicher oder auch wirklicher Straftaten verurteilten DDR-Gerichte bis Anfang Oktober 1240 Personen zu mehrjährigen Haftstrafen, darunter 1090 Arbeiter und 23 Einwohner Westberlins. 138 Personen hatten der einen oder anderen Nazi-Organisation angehört, 59 waren SED-Mitglieder, 76 waren Mitglieder anderer DDR-Parteien gewesen. Doch im November musste Staatssekretär Ernst Wollweber eingestehen, dass es immer noch »nicht gelungen« war, »die Hintermänner und die Organisatoren des Putsches... festzustellen«. Der Nachweis einer zielstrebigen Vorbereitung und Lenkung von Streiks oder Demonstrationen, ob nun durch Nazis oder durch Amerikaner, gelang zu keiner Zeit...
Obschon niedergeworfen, wurde die Juni-Erhebung von der westdeutschen »Gruppe Arbeiterpolitik«, die in der Tradition der von Heinrich Brandler und August Thalheimer geführten nichtstalinisierten KPD-Fraktion stand, als das "revolutionäre Erwachen des deutschen Proletariats" gewürdigt. Isaac Deutscher, seiner Herkunft nach ein polnischer Trotzkist, seit langem in England als Historiker tätig, wandte ein, von einem solchen Erwachen könne schon deshalb keine Rede sein, weil das Proletariat im Westen völlig passiv geblieben sei. Dessen Apathie sowie der Umschlag des ökonomischen Kampfes der ostdeutschen Arbeiter in eine politische Revolte hätten dem Westen einen Punktsieg im Kalten Krieg verschafft und die Stellung Adenauers gefestigt. Daher "tendierte eine Aktion, die alle äußeren Anzeichen einer revolutionären Tat besaß, dazu, in die Hände der Konterrevolution zu spielen".
Nun wäre dies nicht die erste revolutionäre Aktion gewesen, die das Gegenteil des Erstrebten zur Folge hatte. Doch war eine selbstbestimmte Revolution gewiß nur als gesamtdeutsche möglich (wenn überhaupt), mußte sich also vor allem gegen die Besatzungsmächte richten, und es versteht sich, daß sie einer hüben wie drüben anerkannten, zielstrebigen, energischen Führung bedurfte. Wer nun das, was am 17. und 18. Juni geschah, angemessen beurteilen will, der wird es gewiß nicht als Revolution bezeichnen. In der Hauptsache war es eine spontane Arbeitererhebung.

Neuer Kurs, aber keine Demokratisierung
Der 17. Juni hatte lang anhaltende, in sich widersprüchliche Wirkungen und Folgen. Als reiner Arbeitskampf betrachtet, war der Massenstreik erfolgreich. Nach den Leistungsbegrenzungen in der Sozialversicherung und den Preiserhöhungen wurden auch Normerhöhungen und Lohnrückstufungen für ungültig erklärt - selbst dort, wo sie gar nicht auf Widerstand gestoßen waren. Im weiteren gab es Aufbesserungen für untere Lohngruppen sowie bei Renten. Allein im Ergebnis von Preissenkungen für Lebens- und Genussmittel sowie andere Artikel, die im Oktober wirksam wurden, wuchs die Kaufkraft der Bevölkerung um reichlich eine halbe Milliarde Mark.
Der Sowjetregierung blieb nach dem 17. Juni nichts anderes übrig, als die DDR zu entlasten und weitergehend zu unterstützen - ökonomisch wie politisch. Sie reduzierte die Anforderungen an den Ausbau der ostdeutschen Landesverteidigung sowie die von der DDR zu tragenden Stationierungskosten sowjetischer Truppen und verzichtete auf den noch ausstehenden Teil der Reparationen.
Unter derart verbesserten Voraussetzungen folgte die SED dem »Neuen Kurs«, der in Moskau nach Stalins Tod eingeschlagen und auch den Satelliten vorgeschrieben wurde. Doch anders als in jenen Staaten, die schon früher zum Sozialismus sowjetischer Prägung übergegangen waren, führte dieser Kurs in der DDR auch zur anhaltenden Neubelebung der Privatwirtschaft, gewährleistete er den Fortbestand des Demokratischen Blocks samt aller nichtkommunistischen Parteien sowie die Entspannung der Beziehungen zwischen Staat und Kirchen. Die SED zeigte sich nun auch bereit, auf kulturelle Massenbedürfnisse einzugehen und Unternehmungen zuzulassen, die nicht ausschließlich dem dienten, was sie unter sozialistischer Erziehung verstand.
Zu dem, was jener Sommer nach sich zog, gehören aber auch die Wiederherstellung und Befestigung der dominierenden Position Ulbrichts sowie der Parteibürokratie im politischen System der DDR. Die Bestrebungen, Partei und Staat zu demokratisieren, waren mit der Arbeitererhebung gescheitert. Alle, die einen demokratischen Sozialismus gefordert hatten, wurden so oder so zum Schweigen gebracht, und viele von ihnen verließen das Land. Das Selbstbewusstsein in der Arbeiterschaft war zwar gewachsen, und sie brachte ihre sozialen Interessen fortan stärker zur Geltung, vermied es allerdings, die »führende Rolle« der Partei offen in Frage zu stellen. Die Parteiführung wiederum baute ihren Herrschafts- und Kontrollapparat maßlos aus und machte das »Stimmungs- und Meinungsbild« zum Indikator für eine Sozialpolitik, die bis in die achtziger Jahre hinein die Gesellschaftsordnung stabilisiert.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

Mehr aus:
- Anzeige -
- Anzeige -