Ohne Menschen ginge es der Erde besser
Franz Alt im Gespräch mit dem Dalai Lama
Dalai Lama: Ökonomisch gab es in der letzten Zeit einige Fortschritte, aber religiös, kulturell und ökologisch ist die Lage erschreckend. Es gibt Gewalt gegen die Tibeter und Unterdrückung sowie massive Menschenrechtsverletzungen. Es gibt politische Gefangene und Folter in Gefängnissen. Einige Freiheiten, die es inzwischen in China gibt, zum Beispiel ein wenig Meinungs- und Demonstrationsfreiheit, gibt es in Tibet immer noch nicht.
Es besteht ein grundsätzliches Misstrauen der chinesischem Besatzung gegenüber den Tibetern, weil wir Tibeter sind. Das ist das größte Problem.
Positiv ist, dass sich immer mehr Chinesen für die tibetische Kultur und für den tibetischen Buddhismus interessieren. Sie können heute als religiöse Touristen nach Tibet reisen. Das fördert die Freundschaft zwischen Chinesen und Tibetern von Mensch zu Mensch.
In Lhasa, Tibets Hauptstadt, habe ich bereits mehr Chinesen als Tibeter gesehen. Ich habe von chinesischen Plänen gehört, wonach in den nächsten Jahrzehnten 20 Millionen Chinesen nach Tibet umgesiedelt werden sollen. Dann gäbe es in Tibet dreimal mehr Chinesen als Tibeter. Fürchten Sie eine Überfremdung Ihres Landes?
Das ist meine größte Sorge. Die kulturelle Überfremdung führt dazu, dass die Tibeter zur Minderheit im eigenen Land werden. Das führt auch zu Umweltkatastrophen, weil sich die Chinesen der Ökologie auf dem Dach der Welt kaum anpassen können. Die Umweltsituation in Tibet hat aber Auswirkungen auf ganz Ost- und Südasien, auf China, Nepal und Indien. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die fünf größten Flüsse Asiens entspringen alle dem Himalaya. Abholzungen in Tibet haben in China zu riesigen Überschwemmungen geführt. Davon waren 1998 über 100 Millionen Chinesen direkt betroffen. Von diesen ökologischen Zusammenhängen nimmt die Welt fast keine Kenntnis.
Die ökologische Situation auf der ganzen Welt ist natürlich eine Katastrophe: Treibhauseffekt, Wasserknappheit, Artensterben, Waldrodungen, chemisierte Landwirtschaft! Wenn wir so weitermachen, hinterlassen wir unseren Kindern und Enkeln eine einzige Wüste. Wir sind dabei, uns selbst auszurotten. Für die Erde wäre es ohnehin das Beste, wenn wir Menschen bald verschwinden würden. Ohne Menschen ginge es der Erde besser. Aber noch haben wir eine Chance, uns zu ändern (lacht laut und lange). Aber niemand weiß, ob wir die Chance wirklich nutzen (lacht weiter).
Ihr Lachen und Ihr Lächeln sind Ihr Markenzeichen. Woher nehmen Sie dafür die Kraft?
Als praktizierender Mönch bin ich ein zufriedener und ein glücklicher Mensch. Es gibt einen Weg zum Glück. Und zweitens: Trotz vieler Rückschläge und vieler Probleme auf der Welt sehe ich auch viele Fortschritte in der Phase meines jetzigen Lebens. Darüber freue ich mich.
Es bringt einfach nichts, wenn man sich ärgert. Nicht einmal über seine Feinde soll man sich ärgern. Es ist intelligenter, seine Feinde zu lieben. Das sagt auch Jesus in der Bergpredigt - eine tiefe Weisheit. Von seinen Feinden kann man besonders viel lernen (lacht!). Ich habe die Vision einer friedlichen Welt. Wenn wir in dieser Generation keinen Frieden erreichen, dann eben in der nächsten Generation (lächelt). Wir können lernen, Wut, Hass und Begierden zu überwinden. Das ist der Weg zu Frieden und wirklicher Freiheit. Mein Rat: Nicht zu sehr auf materielles Glück bauen - wichtiger sind Einsichten darüber, was uns wirklich hilft oder schadet.
Die USA haben im Irak durch Gewalt ein diktatorisches Regime in vier Wochen beseitigt. Das war eher Feindbild-Politik als Feindesliebe. Sie versuchen seit 40 Jahren den Weg der Gewaltlosigkeit, um Tibet zu befreien. Aber ohne Erfolg. Hat der Irak nicht bewiesen, dass eine Politik der Gewalt erfolgreicher ist als Ihre Politik?
Die Situationen in Tibet und im Irak sind nicht vergleichbar. Zwischen Tibet und China geht es um die Zusammenarbeit zweier Völker, die mehr als 2000 Jahre meist friedlich nebeneinander lebten. Diese Situation möchte ich wiederherstellen. Das geht aber nicht mit Gewalt. Gewalt schafft immer neue Gewalt - wie man gerade am Beispiel Irak sehen kann.
Gewaltlosigkeit ist kein diplomatischer Begriff, sondern gelebtes Mitgefühl. Krieg ist immer eine Niederlage des Menschlichen. Gewaltlösungen sind alte Lösungen. Wir brauchen heute neue, friedliche Lösungen. Diese müssen allerdings von unten kommen. Regierungen allein schaffen das nicht. Frieden im Herzen schafft Frieden in der Politik. Die Demonstrationen für Frieden von Millionen Menschen in diesem Frühjahr waren ein großer Fortschritt.
Ich setze also nach wie vor auf Vertrauen und Versöhnung. Nur damit erreichen wir wirklichen Frieden. Dass sich heute Millionen Chinesen für das Schicksal Tibets ehrlich interessieren, ist ein Erfolg meiner Politik der Gewaltfreiheit. Wir wollen in Tibet mit einem gewaltfreien Weg der ganzen Welt einen neuen Weg zum Frieden zeigen. Langfristig ist Gewaltfreiheit erfolgreicher als Gewalt. Gewalt ist immer auch Ausdruck von Ungeduld und Unbeherrschtheit der eigenen inneren Aggressionen.
Lassen Sie mich nachfragen: Haben Sie Verständnis für junge Tibeter, die sagen: »Der Weg des Dalai Lama hat 40 Jahre nicht zum Erfolg geführt. Jetzt müssen wir es mit Gewalt versuchen?«
Ich verstehe diese Ungeduld. Auch manche ältere Tibeter argumentieren so. Ein tibetische Sprichwort sagt: Es gibt Nachbarn, mit denen man einfach nicht friedlich zusammenleben kann. Viele, die so denken, haben durch die chinesische Besatzung unermesslich viel Leid, Hass und Qualen erleben müssen. Ihre negative Haltung ist emotional verständlich. Mein rationaler Weg aber bleibt die Gewaltlosigkeit. Nur so wird es langfristig Erfolg, Freiheit und Glück für alle geben können. Einen Termin für die Freiheit Tibets kann ich Ihnen natürlich nicht nennen. Zur Zeit aber verhandelt eine tibetische Delegation wieder mit einer chinesischen Regierungsdelegation. Das erfüllt mich mit Hoffnung.
Ich habe von vielen Tibetern die Forderung gehört: »Der Dalai Lama soll zurückkommen. Erst dann können wir in Harmonie leben und in Ruhe sterben.« Glauben Sie noch daran, nach Tibet zurückkehren zu können? Sie sind schließlich 68 Jahre alt!
(lacht) Wenn ich die Tibetfrage im Zusammenhang mit neuen positiven Entwicklungen in China sehe, bin ich optimistisch. In China sehe ich zur Zeit beinahe Monat für Monat Fortschritte hin zu mehr Freiheit. Wenn diese Entwicklung anhält, werde ich bald zurückkehren können.
Sie hoffen also noch?
(lächelt) Ja.
Sie kennen den katholischen Theologen Hans Küng. Stimmen Sie seiner These zu, wonach Frieden zwischen den Religionen Voraussetzung für den Weltfrieden ist?
Ich bin nicht davon überzeugt, dass die meisten Kriege religiös motiviert sind. Religion wird in der Politik oft instrumentalisiert und missbraucht. Die wahren Kriegsgründe sind meist ökonomisch und machtpolitisch. Oft geht es auch um Ressourcen und Rohstoffe. Ich habe in Nordirland vorgeschlagen, die Religion aus dem dortigen Konflikt auszuklammern. Auch dort geht es primär um Macht und um soziale Konflikte.
Aber ein Blick auf den 11. September und die Reaktion der USA in Afghanistan und Irak zeigt, dass immer auch religiös argumentiert wird. Muslimische Fundamentalisten sprachen vom »Heiligen Krieg« und George W. Bush vom »Gerechten Krieg«. Besteht in den nächsten Jahren nicht die reale Gefahr eines »Clash of Civilizations« und eines »Clash of Religions« zwischen der christlichen und der islamischen Welt?
Die Ereignisse des 11. September sind vielschichtig. Der Konflikt hat sich über viele Jahre aufgeladen. Auch hier geht es um viel mehr als nur um Religion. Hier zeigt sich der Missbrauch von Religion besonders deutlich. Es gibt nämlich weder »Heilige Kriege« noch »Gerechte Kriege«.
Kriege sind immer eine Katastrophe. Auch in Indien geht es zwischen Hindus und Moslems um mehr als nur um Religion. Beide Religionen haben jahrhundertelang friedlich zusammengelebt. Streit um Machtpolitik und Stärke sind die Ursache des Konflikts zwischen Indien und Pakistan. Religion ist eine Nebenursache, Machtspiele und ökonomische Interessen sind die Hauptursachen. Da wir alle einen kleinen Planeten bewohnen, müssen wir lernen, in Frieden und Harmonie und im Einklang mit der Natur zu leben. Das ist nicht nur ein Traum, sondern eine Notwendigkeit.
Lieber Dalai Lama, lieber Freund: Was ist der gemeinsame Kern aller Religionen?
Fundamentale menschliche Werte wie Liebe, Toleranz und Mitgefühl sind die Basis aller Religionen. Es gibt natürlich auch philosophische, kulturelle und historische Differenzen zwischen den Religionen. Aber alle Religionen wollen die genannten Grundwerte auf der ganzen Welt stärken. Mein Hauptanliegen bei meinen Reisen um die ganze Welt und bei den vielen Interviews, die auch wir beide seit 1983 führten, ist es, das Verständnis für tiefere menschliche Werte zu fördern. In Ihrer Bergpredigt und Ihren Jesus-Büchern finde ich Jesus-Worte, die Buddha ganz ähnlich ausgesprochen hat. Darüber haben wir früher diskutiert. Unsere gemeinsamen Werte sind Mitgefühl, Sorge und Engagement für andere. Alle Religionen wollen diese Grundwerte weltweit stärken, damit Menschen bessere und bewusstere Menschen werden können. Unser gemeinsamer Weg heißt doch: mehr Achtsamkeit gegenüber allem Leben, auch gegenüber Tieren und Pflanzen.
Daraus folgt dann ganz konkret und praktisch: Frieden statt Krieg. Ich sehe auch Fortschritte in der Friedensfrage gegenüber dem letzten Jahrhundert. Die Geschichte Europas ist doch eine Geschichte vom Krieg zum Frieden. So ein positives Beispiel gibt uns auch ganz persönlich viel Hoffnung. Die Gemeinsamkeiten aller Religionen sind viel größer als die Unterschiede. Das gilt auch für politische und nationale Gemeinschaften. Wenn wir uns in den Religionen mehr auf unsere Gemeinsamkeiten besinnen und weniger über unsere metaphysischen Differenzen streiten, dann dienen wir dem Frieden zwischen den Menschen und dem Frieden mit der Natur.
Sie waren in den letzten Jahrzehnten 20 Mal in Deutschland, aber noch nie hat ein deutscher Bundeskanzler - aus Angst vor der chinesischem Politik - gewagt, Sie zu empfangen. Das war in den USA, in Frankreich oder in der Schweiz anders. Dort haben die Regierungschefs mit Ihnen gesprochen. Sind Sie über die Feigheit der deutschen Politiker enttäuscht?
Der Zweck meiner Reisen ist, die universalen Werte zu fördern - dabei hilft die Begegnung mit jedem Menschen. Ich freue mich auch, Politiker zu treffen. Ich bin aber nicht enttäuscht, wenn Politiker Rücksicht auf bestimmte Interessen nehmen müssen. Ich bin auch nicht gegen Wirtschaftskontakte mit China. Ich schlage den Wirtschaftlern allerdings vor, die Menschenrechtsfragen in Tibet bei ihren Gesprächen und Geschäften in China zu diskutieren.
Den Politikern möchte ich natürlich keine Schwierigkeiten bereiten. Grundsätzlich möchte ich aber betonen, dass die Sache Tibets in Deutschland von vielen Menschen unterstützt wird. Es gibt hier viele Tibet-Gruppen, die sich seit Jahrzehnten für die Menschenrechte in Tibet engagieren. Das hilft uns sehr. Dafür bin ich dankbar. So bleibt die Tibetfrage immer im Bewusstsein. In der deutschen Regierung haben wir in Außenminister Joschka Fischer einen engagierten Verfechter für die Menschenrechte in Tibet und für unser Streben nach mehr religiöser Freiheit und kultureller Autonomie in Tibet.
Meine Schlussfrage: Das ist meine letzte Fernsehsendung, die ich moderiere. Sie steht unter dem Titel: »Frieden, Umwelt, Menschenrechte« - was bedeuten diese drei Werte für die Zukunft der Menschheit?
Diese Grundwerte entscheiden über unsere Zukunft. Eine Umweltpolitik, die diesen Namen verdient, ist Voraussetzung für unser Überleben. In einer zerstörten Welt kann man auch nicht erfolgreich wirtschaften. Leben, arbeiten und wirtschaften mit der Natur, und nicht mehr länger gegen die Natur, ist unser großer Lernprozess. Unser Planet ist unser Zuhause, unser einziges Zuhause. Wo sollten wir denn hingehen, wenn wir ihn zerstören?
Wie schon gesagt: Ohne uns Menschen ginge es der Erde zur Zeit besser als mit uns. Der Mensch ist der größte Schädling auf der Erde. Ohne Menschen gäbe es auch keine Kriege mehr und keine Massenvernichtungswaffen, die alles Leben bedrohen (lacht wieder lange).
Im Ernst: Auch der Grundwert Frieden ist natürlich überlebenswichtig. Und ohne die Beachtung der Menschenrechte kommen wir auch dem Frieden nicht näher. Wenn wir uns gegenseitig Leid zufügen und die Menschenrechte verletzen, kann auf dieser schönen Erde keine Harmonie entstehen.
Dr. Franz Alt stellte »Neues Deutschland« dieses Interview freundlicherweise vorab zur Verfügung.
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