Leben und Lektüre

Inspirierende Bücherschau mit Gregor Gysi und Hans-Dieter Schütt

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 5 Min.
Gregor Gysi las auch mal gern gemeinsam mit dem Dramatiker Heiner Müller, hier auf der Leipziger Buchmesse 1992.
Gregor Gysi las auch mal gern gemeinsam mit dem Dramatiker Heiner Müller, hier auf der Leipziger Buchmesse 1992.

Es ist nicht das erste Buch, das die beiden zusammen gemacht haben. Wenn ich sage, es sei ihr bestes, liegt das auch an eigener Gestimmtheit. Weil es ein Plädoyer fürs Lesen ist. Da betont »Mein Leben in 13 Büchern« schon im Titel das Prägende von Literatur, die eben mehr ist als Unterhaltungsware. Denn lesend geschieht mit uns Großartiges: Wir tauchen in eine fremde Erlebniswelt und verbinden sie mit all dem, was uns selber ausmacht.

Es ist ein ganz persönlicher Vorgang, wie Lektüre Erinnerungen weckt, auf Sehnsüchte reagiert und auf Ängste, wie sie uns weiterbringt. Da lässt Gregor Gysi im Gespräch mit Hans-Dieter Schütt in seine Seele blicken, tiefer vielleicht als in Bänden zuvor.

Wilder Ritt durch die Bücherwelt: Von Gysis Tante, der Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing, zu Marcel Reich-Ranickis Erinnerungsband »Mein Leben«. Ein jüdisches Schicksal: »Wenn man so etwas liest, kommt einem zu Bewusstsein, … was einem erspart blieb, wie viel Glück man einfach nur gehabt hat …« Unvermutet dann ein Jugendbuch: »Die rote Zora und ihre Bande« von Kurt Held, das Gregor mit zehn, elf Jahren in die Hände bekam und sich wunderte, wie ein 13‑jähriges Mädchen als Bandenchefin von allen Jungs akzeptiert wird. Was ihn heute als Linker bewegt: »Fast immer hat ein Mensch recht, wenn er sagt, ein System, eine Struktur sei schuld an allem Elend und aller Sorge, aber immer hat der Mensch unrecht, wenn er daraus den Schluss zieht, er selbst sei nicht zuständig, nicht verantwortlich, könne nichts verändern.«

Heinrich Manns Roman »Der Untertan« lässt daran denken, dass es diesen Typus immer noch gibt: »devot gegenüber der Macht, autoritär und herrschsüchtig gegenüber seinen Untergebenen«. Thomas Manns »Mario und der Zauberer« in der »Atmosphäre einer schlimmen Kriegstüchtigkeit, das Wort hat leider wieder deutsche Konjunktur …«

Dagegen gesetzt Goethes Lebenskonzept, »ein Meister seiner selbst zu sein«, und Rosa Luxemburgs Briefe aus dem Gefängnis, die Gysi darin bestärkten, »unter Druck vollzogene politische Schritte stets auch infrage zu stellen. Es gibt dazu einen bitteren, scharf zuspitzenden Satz, den schon Georg Büchner seinen Danton zu Robespierre sagen lässt: ›Wo die Notwehr aufhört, fängt der Mord an.‹« Und dabei darf die »Sorge um gesellschaftliche Zustände … uns nicht unfähig machen für die Lust am Dasein … Eine wirksame Linke sollte Visionen entwickeln, aber ebenso Verständnis für die kleinen Träume der Menschen haben. Und was heißt überhaupt: kleine Träume. Das Alltagsleben bildet einen Kosmos von Augenblicken, aber unbedeutend ist es deshalb nicht. Der jeweils kleine Frieden baut mit am ersehnten großen Frieden.«

»Nathan der Weise«: Die erste Premiere im Deutschen Theater nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wie zukunftsweisend, denn das »erst ist Toleranz: Arbeit am Widerspruch, am Mitleben des Fremden, Unbekannten. Wirklicher Frieden entsteht nicht durch das Verdrängen, sondern durch das bewusste Leben mit diesen oftmals anstrengenden Unterschieden und Widersprüchen.«

Unvermutet »Der Hund von Baskerville« von Arthur Conan Doyle und umso persönlicher. Sherlock Holmes: im »streng hierarchischen viktorianischen England« ein brillant Eigenständiger in seiner Gedankenwelt. Deshalb mag ich ihn ja auch. Und durch Gysis Erinnerung fällt mir auch »Paul allein auf der Welt« von Jens Sigsgaard wieder ein, wie verlockend ich es fand, ganz frei machen zu können, was man will, und wie verloren ich mich fühlen würde. »Ja, die Zeit arbeitet sonderbar an den Wirkungen, die ein Kunstwerk auslöst«, höre ich Gregor Gysi sagen. »Es kann etwas immer schon dagestanden haben in einem Buch, ohne dass wir die Zeichen wirklich lesen konnten.«

Manche Texte runden sich zu eigenständigen Essays wie der zu Volker Brauns Erzählung »Die hellen Haufen«. Erinnerung an das letztlich ergebnislose Aufbegehren der Kalikumpel von Bischofferode 1992 gegen die Schließung ihrer Grube: »Auf Protestkundgebungen sprach ich, unterhielt mich mit den Bergleuten und ihren Familien …« Aber: »Nie zuvor oder danach habe ich Ohnmacht so krass und zornig gespürt.« Volker Braun aber »träumt einen Zug von Millionen herbei, sein Buch ist eine Fantasie des aktiven, bewaffneten Zorns. Dieser Zorn umfasst auch andere Werke, bis nach Mansfeld und Leuna hinüber, ja ganz Ostdeutschland wird zu einer so nie gesehenen Landschaft …«

Bücher sollen einen doch weiterbringen. Überraschendes findet sich im Abschnitt zum Kommunistischen Manifest und mehr noch in dem zur Luther-Bibel, die schon Brecht als sein Lieblingsbuch bezeichnete. Geschichten für Heutige: Es geht da um den bestechlichen Freund, um den Verleumder ausgerechnet unter den Getreuen, es geht um mutige Frauen, um zweifelnde Herrscher. Man kennt all diese Leute, man forscht beim Lesen unwillkürlich in sich nach. Wir glauben die Welt analysieren und begreifen zu können; mit großem Vertrauen in die Vernunft gehen wir an die Dinge heran, aber bleiben oft im Nebel. Ein später Satz meines Vaters war: »Ich kann ohne Gott leben, kann mir jedoch mein Gewissen auch nicht erklären.«

Gregor Gysi: »Ich glaube nicht an Gott, aber ich fürchte eine gottlose Gesellschaft. Ich meine damit eine religionsfreie Welt. Allein die Religion – nicht die Institution Kirche! – kann allgemein verbindliche Moralvorstellungen in der Gesellschaft verankern. Das kann sonst niemand, auch nicht die Parteien, da mögen manche von ihnen noch so viel Christentum im Namen tragen.«

Gregor Gysi: Mein Leben in 13 Büchern. Hg. v. Hans-Dieter Schütt. Aufbau, 192 S., geb., 20 €.

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